
12. Februar 2019
Allgemeinmediziner und Schiffsarzt
Traumschiff oder „Black Pearl“?
Der Salzburger Allgemeinmediziner Dr. Lukas Schilchegger war mit 33 Jahren einer der jüngsten Schiffsärzte einer Kreuzfahrtschiffsflotte. Als Arzt verbrachte er 5 Monate auf Kreuzfahrt und wollte damit seine Vorstellungen von Beruf, Abenteuer und Freiheit verbinden. Entspricht der große Traum der Realität? Was so verlockend klingt, hat auch seine Schattenseiten.
Der Mensch

Wer verbringt nicht gerne Monate oder Jahre seines Lebens auf Reisen? Seine Route führte Dr. Schilchegger nach Jamaika und in die Karibik, über den Atlantik von Madeira bis nach Le Havre, in die Nord- und Ostsee bis St. Petersburg, nach Norwegen und Island bis nach Spitzbergen. Die Anstellung auf einem Kreuzfahrtschiff, dotiert mit dem Gehalt eines Oberarztes, machte dies möglich. Verantwortungsbewusstsein, Entscheidungsfreude, Kontaktfreudigkeit, Teamfähigkeit und absolute Reiselust, das sind grundlegende charakterliche Voraussetzungen, die Lukas Schilchegger mitbrachte, um sich in das Abenteuer als Schiffsarzt zu stürzen. Ob er sich selbst als Abenteurer sieht? In gewisser Weise ja, und es dürfte auch eine genetische Komponente an Schilcheggers Reiselust beteiligt sein: „Die Faszination dafür, neue Länder zu entdecken, fremde Kulturen kennenzulernen und somit den eigenen Horizont zu erweitern, wurde mir von meinem Vater vererbt“, erzählt Schilchegger.
Nach mehrjähriger Tätigkeit als Bergdoktor im Schigebiet Obertauern und einer notfallmedizinischen Ausbildung beim dort ansässigen Allgemeinmediziner Dr. Harald Aufmesser sehnte er sich nach Abwechslung. Inspiriert durch die Fernsehserie „Das Traumschiff “, begann Dr. Schilchegger Pläne zu schmieden und kam auf die Idee, seine unstillbare Reiselust mit dem Beruf zu verbinden. Kurz entschlossen schickte er seine Bewerbung an eine große Kreuzfahrt- Company ab. Nicht lange danach folgte die Einladung zum Vorstellungsgespräch.
Der Job – Voraussetzungen und medizinische Zusatzqualifikationen
Voraussetzung für den Job waren das Jus practicandi und ein abgeschlossenes Notarztdiplom, Unbescholtenheit laut Strafregisterbescheinigung und natürlich die körperliche Eignung. Diese wird im Rahmen einer Basisuntersuchung ermittelt. Bevor er an Bord gehen durfte, musste Schilchegger ein fünftägiges Sicherheitstraining absolvieren. Hierbei werden zum Beispiel die allgemeinen Regeln an Bord, Crowd-Management und Schiffsevakuierung trainiert. Am Ende ist eine Prüfung abzulegen. Erfahrung mit Unfällen, Ultraschallkurse und ein abgelegter Strahlenschutzkurs sind von Vorteil. An Bord selbst müssen in regelmäßigen Abständen Computerprüfungen absolviert werden, in welchen das Wissen über diverse Bereiche wie Legionelleninfektionen, „sexual assault“, Datenschutz etc. abgefragt wird.
Nach dem Vorstellungsgespräch waren etliche bürokratische Hürden zu bewältigen. Es mussten Nachweise erbracht und Formulare ausgefüllt werden. Perfekte Englischkenntnisse in Wort und Schrift sind eine unbedingte Voraussetzung, weil die Dokumentation und die dienstliche Kommunikation an Bord in Englisch erfolgen. Gäste werden natürlich so weit wie möglich in ihrer Muttersprache betreut. Prinzipiell ist eine breit gefächerte medizinische Ausbildung von Vorteil, weil man mit den ausgefallensten Situationen konfrontiert ist: von einer nötigen Zahnprothese bis zum eingewachsenen Zehennagel, vom Insult bis zur C2-Intoxikation.
Die Hierarchie
Die Hierarchie ist streng, sehr straff strukturiert und wird auch so gelebt. Der Kapitän hat volle Befehls- und Entscheidungsgewalt und ist die oberste Instanz aller Abteilungen. Trotzdem herrscht ein freundschaftlicher Umgangston an Bord. Dienstgrad und Funktion jedes Einzelnen sind anhand der Streifen auf der Uniform ersichtlich. Silberne Streifen bedeuten, dass man dem Hotelbereich zugeordnet ist, goldene Streifen kennzeichnen den nautischen Bereich. Mit drei goldenen Streifen auf der Uniform ist man als Schiffarzt weit oben in der Hierarchie angesiedelt: Nur der Kapitän hat mehr, nämlich vier Streifen.
Das Leben an Bord
Der Schiffsarzt genießt ein hohes Ansehen und hat viele Privilegien. So darf er sich am Schiff frei bewegen, alle Restaurants im Passagierbereich benützen und den Offizieren einen Besuch auf der Brücke abstatten. Während der Dienstzeit muss dies in Uniform erfolgen; hat der Kollege Dienst, darf man mit Namensschild und Privatkleidung den Passagierbereich betreten. Wie in einer üblichen Praxis „an Land“ gibt es Sprechstunden für die Passagiere und die Crew; normalerweise von 07:30 bis 11:00 Uhr und von 16:00 bis 19:30 Uhr, dazwischen hat man Bereitschaftsdienste. Ein Dienst beginnt immer bei der Dienstübergabe um 15:30 Uhr und dauert bis 15:30 Uhr am nächsten Tag, somit hat man jeden 2. Tag Nachtdienst.
Die Anzahl der Patienten hängt von der Größe des Schiffes ab. Die kleinsten Schiffe beherbergen in der Regel 1000 Passagiere mit 350 Crewmitgliedern. Schiffe, wie das, auf dem Schilchegger seinen Dienst verrichtete, können 2500 Passagiere und eine Crew von 600 Personen aufnehmen. Dadurch ist mit circa 25 Patienten am Vormittag und 25 Patienten abends zu rechnen. Größere Schiffe können insgesamt bis zu 6200 Menschen aufnehmen. Das bedeutet definitiv einen intensiven Arztalltag.
Das medizinische Team und die Ausstattung
Auf den Passagierschiffen wechseln sich mindestens 2 Ärzte im 24-Stunden-Rad ab. Darüber hinaus stehen MFA und Krankenschwestern zur Verfügung. Die medizinische Ausstattung ist vergleichbar mit einem kleinen Krankenhaus und umfasst Krankenzimmer mit Normalbetten und Notfallbetten, einen kleinen OP mit Röntgen, Ultraschall sowie einen Notfallraum mit Intensiveinheit. Labortechnisch sind die Bestimmung von BB, CRP, D-Dimer, Troponin und ein Abdomenlabor an Bord durchführbar.
Der medizinische Alltag

Der Alltag des Schiffsarztes ist vielfältig und bunt. Es wäre naiv zu glauben, dass nur Kleinigkeiten zum Tagesgeschäft zählen. Ganz im Gegenteil, das Spektrum ist breit gefächert, von Unterschenkelfrakturen bis zu Rissquetschwunden und Seeigelverletzungen, von der Erkältung bis zum Steinleiden. Relativ häufig waren Synkopen zu behandeln, so Schilchegger, die Patienten konnten aber nach Observanz, EKG und bei unauffälliger Neurologie meist entlassen werden. Wie sich Dr. Schilchegger erinnert, waren die zu behandelnden Patienten relativ alt. Das Durchschnittsalter lag bei circa 62 Jahren. In der Ferienzeit war der Kinderanteil oft sehr viel höher, es waren oft bis zu 300 Kinder an Bord, die im Bedarfsfall zu betreuen waren. Als belastend empfand Schilchegger die teilweise kritischen Situationen, die eine erkrankungsbedingte Ausschiffung der Passagiere nötig machten. „Das zu behandelnde Patientenkollektiv kann sehr kranke, multimorbide und alte Menschen umfassen“, so der junge Arzt. „Oft wägen sich Patienten in falscher Sicherheit, da ja ohnehin ein Arzt an Bord ist.“ Auch muss man sich vor Augen führen, dass bei einem Insult oder einem Myokardinfarkt die verfügbaren Therapien limitiert sind. Die geografische Lage und die Erreichbarkeit des nächsten Krankenhauses sind ständig in den therapeutischen Entscheidungsprozess miteinzubinden. Auch die Fachrichtung des zweiten Kollegen an Bord ist mitzuberücksichtigen, denn mit einem Chirurgen könnte durchaus eine Appendektomie an Bord durchgeführt werden.
Die größten Herausforderungen für Schilchegger waren akut lebensbedrohliche Ereignisse. Ins Kalkül ziehen musste er die Anzahl der Seetage bis zum nächsten Ort und das Fahrgebiet, diese Faktoren können manche Situationen durchaus aggravieren, resümiert er. „8 Seetage während der Transatlantiküberfahrt und 4 Seetage nach Spitzbergen waren etwas schwierig zu meisternde Situationen. In 5 Monaten waren 5 Schlaganfälle zu behandeln. Dabei war das Schiff 3x im Hafen und der Patient wurde an die örtlichen Sanitäter übergeben, und 2x auf hoher See, wo der Seenotrettungsdienst hinzugezogen wurde.“ Schwangere dürfen bis zur 25. SSW mitreisen, danach nicht.
„Mann über Bord!“
Jährlich verschwinden etwa 20 Menschen auf Kreuzfahrtschiffen. Die Gründe hierfür sind in der Regel Unfälle, häufig in Zusammenhang mit Alkohol, oder auch Suizide. Immer wieder steht auch der Verdacht einer Straftat im Raum. In vielen Fällen können die Vermissten auf See nicht mehr gefunden werden, wodurch eine zweifelsfreie Klärung häufig ausbleibt. Einheitliche Sicherheitsstandards zur Vermeidung solcher Notfälle gibt es aktuell nicht. Schilchegger schildert einen verdächtigen Fall eines potenziell suizidgefährdeten Passagiers, der durch das Hospitalteam observiert und an Land an die Angehörigen übergeben wurde. Prinzipiell muss jeder Verdacht dokumentiert und bei Bedarf an die Landseite übermittelt werden, davon wird der Kapitän in Kenntnis gesetzt. Bei problematischen Fällen können der Kollege und die Rechtsabteilung der Reederei zur Absicherung hinzugezogen werden. Todesfälle an Bord blieben dem jungen Arzt erspart. Dafür ist ein eigenes Prozedere vorgesehen, und es gibt für solche Fälle sogar Kühlboxen an Bord.
Notfall an Bord
Die Entscheidung, ob ein Passagier an Land gebracht werden muss, obliegt dem Schiffsarzt, natürlich in Absprache mit dem zweiten Kollegen und dem Kapitän. Im akuten Notfall kann blitzschnell via Anruf über die Brücke vom diensthabenden Arzt „Medical Response“ ausgelöst werden, erzählt Dr. Schilchegger. Hier wird über alle Schiffslautsprecher ein Notruf abgesetzt und das gesamte Hospitalteam inklusive Schwestern sowie Träger und Hotelmanagement mobilisiert. Danach gilt es, den Patienten vor Ort zu stabilisieren und ihn rasch ins Hospital zu bringen, nach oder während der Stabilisierung erfolgt die Kontaktaufnahme mit dem Kapitän. Die aktuelle geografische Lage wird diskutiert und die nächstmögliche adäquate Versorgungseinheit an Land gesucht. Zusätzlich kann auch der Seenotrettungsdienst kontaktiert werden. Die schnellste Rettungsvariante ist die mittels Abtransport mit dem Hubschrauber – da es an Bord keinen Landeplatz gibt, muss sie als Seilwindenbergung erfolgen. Weiters wäre die Abholung über ein Seenotrettungsboot denkbar. Natürlich kann das Kreuzfahrtschiff auch direkt einen Hafen ansteuern.
Privatleben an Bord
Die lange Abwesenheit ist natürlich schwer mit dem Privatleben zu verbinden. Beziehungen und Freundschaften müssen bekanntlich gepflegt werden und die Erfahrung der langen Reisen hat Schilchegger gelehrt, ihren Wert zu schätzen. Das Privatleben an Bord gestaltet sich eher schwierig, denn der Kontakt zu Passagieren ist strikt untersagt. Wenn man länger für dieselbe Reederei fährt, ist es erlaubt, seinen Partner kostengünstig mitreisen zu lassen. Da die Ärzte im Theaterraum des Kreuzfahrtschiffes vom Kapitän offiziell vorgestellt werden, sind sie sofort allgemein bekannt und werden auch von den Passagieren identifiziert. Der diensthabende Arzt darf das Schiff nicht verlassen, außer es bedarf einer Krankenhausbegleitung. An den freien Tagen kann man sich ohne Einschränkung bewegen und auch Landausflüge unternehmen. Von Busausflügen mit den Passagieren rät Schilchegger jedoch ab, weil man durch die Bekanntheit als Arzt ständig auf dieses und jenes Wehwehchen angesprochen wird. Möglicherweise beflügelt die Uniform mit den goldenen Streifen auch die Fantasie weiblicher Passagiere.
Erfahrung fürs Leben
Als lästig, aber notwendig beurteilt er die ein- bis zweimal pro Woche stattfindenden Seenotrettungsübungen, an der das komplette medizinische Team teilnehmen muss, denn sie sind auch in der Freizeit verpflichtend. Und dennoch würde Schilchegger, der auf Bereitschaft angemeldet ist, den Job wieder annehmen. „Die Schiffsarzttätigkeit war eine meiner besten Erfahrungen, jedoch auch eine meiner bisher größten Herausforderungen. Als ,First Doc‘ ist man für die gesamte medizinische Abteilung verantwortlich und muss auch manchmal als Mediator unter den Mitarbeitern fungieren. Man lernt im Laufe der Zeit Risiken abzuschätzen und Situationen abzuwägen.“ Besonders schwierig für ihn war die Zeit, in der er als einziger deutschsprechender Arzt an Bord war. Auch die Phase, in der ein schlimmes Darmvirus kursierte und schlaflose Nächte verursachte, hat er nicht in bester Erinnerung.
Dr. Schilchegger: „Natürlich sieht man viele Orte, aber nur oberflächlich, denn das Schiff legt vormittags an und nachmittags wieder ab. Zu spät zu kommen ist verboten, eine Verspätung von einer Minute hat einen Rapport beim Kapitän zur Folge.“ Bei ausreichender Personalsituation an Bord sowie Einsätzen, die nicht länger als 4 bis 8 Wochen dauern, kann er die Schiffsarzttätigkeit durchaus empfehlen. „Es gibt eine gute Verpflegung, eine nette Kabine und viele spannende Orte zu sehen.“ Seine Kollegen waren oft angesehene pensionierte Chefärzte, die die Welt entdecken wollten. Man lernt Verantwortung zu übernehmen und eigenständig zu handeln. Interessant findet Schilchegger auch die Einblicke in die Kreuzfahrtindustrie, in Hotel- und Personalmanagement, Maschinentechnik und allgemein in Organisationsabläufe. Leider spiegelt sich jedoch der vorherrschende Ärztemangel auch in der Kreuzschifffahrt wider, sodass es grundsätzlich mehr Bedarf als interessierte Kollegen gibt.
Bericht: Dr. Christine Dominkus
Notfalle an Bord
Fall 1:
„In meiner Bereitschaft ertönte durch den Schiffslautsprecher plötzlich die Durchsage: ,Medical response proceed to cabin 2100: unconscious patient‘. Ich rannte sofort zu der genannten Kabine, wobei die Orientierung oft nicht so leicht ist. Die erste Zahl beschreibt immer das Stockwerk und die zweite gibt einen Hinweis auf die Seite, 1 ist Steuerbord und 2 Backbord. Vor Ort war die Kollegin schon über eine tonisch-klonisch krampfende Frau gebeugt. Wegen der engen Kleidung gelang es zunächst nicht, einen Zugang zu legen, somit mussten wir ihre Bluse mit der Schere aufschneiden. BZ und Blutdruck waren normal, nach der Gabe von Temesta 4mg konnte die Situation entschärft werden. Schwierig gestaltete sich der Abtransport durch die enge Kabine. Da jedoch genügend speziell ausgebildete Träger zu Hilfe kamen, wurde die Patientin in die Überwachungsstation des Hospitals gebracht. Von einer Angehörigen wurden weitere Vorerkrankungen ausgeschlossen, auch eine Epilepsie war nicht bekannt. Der Kapitän wurde informiert, und weil das Schiff erst vor einer Stunde den Hafen verlassen hatte, entschieden wir, in den norwegischen Fjorden umzudrehen und den Ablegehafen anzusteuern. Im weiteren Verlauf war die Patientin kreislaufstabil, es mussten jedoch weitere Ursachen für den Vorfall ausgeschlossen werden. Nach einer weiteren Stunde wurde die Patientin an die örtliche Versorgungseinheit übergeben.“
Fall 2:
„Bei einem anderen Notfall handelte es sich um einen männlichen Patienten Mitte 60. Seine Frau berichtete über verwirrte Sprache und Griffschwäche. Anamnestisch war eine Hypertonie vorbekannt, es war keine Blutverdünnung, sondern lediglich ein Antihypertensivum verordnet. Festgestellt wurden eine Schwäche der linken Hand sowie eine verwaschene Sprache. Der Druck lag bei 178/80 und die Frequenz bei 80. Nach Oberkörperhochlagerung und Monitoring setzten wir 2 Zugänge und kontaktierten den Kapitän, der ein Treffen auf der Brücke einberief. Eine Seekarte wurde aufgetischt und die Nähe zur Südküste von Schweden im Bereich Öland eruiert. Da meldete sich die Schwester, der Patient könne plötzlich wieder normal sprechen. Alles zurück ins Hospital zur neuerlichen Begutachtung. Hierbei zeigte sich eine fast vollständige Rückbildung der Beschwerden. Zurück auf der Brücke wurde der Seenotrettungsdienst informiert und in Absprache mit dem Notarzt an Land ein Treffpunkt in 1 Stunde vereinbart, bei persistierenden Beschwerden wäre ein Hubschrauber angefordert worden. Der Kurs des Schiffes wurde geändert und wir steuerten auf das Seenotrettungsboot zu. Aufgrund des hohen Wellenganges war die Übergabe des Patienten auf das relative kleine Boot besonders schwierig, verlief aber ohne Komplikationen.“