
24. Dezember 2020
Ein Schmerz, vielfältige Ursachen
Der schmerzhafte Beckenboden
Chronischer Beckenschmerz kann viele Ursachen haben. Bei einem Online-Symposium der Medizinischen Kontinenzgesellschaft Österreich (MKÖ) wurden verschiedene Ansätze zur Unterbrechung der Schmerzspirale präsentiert.
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Die möglichen Ursachen für chronischen Beckenschmerz sind so vielfältig, dass nicht nur die Therapie, sondern auch schon die Diagnostik ein interdisziplinäres Vorgehen erfordert, wie Ass. Prof. Dr. Daniela Dörfler, Universitätsklinik für Frauenheilkunde, Wien, betonte. Die Schmerzen können unter anderem organisch, emotionell oder zentral-biochemisch (gestörte Schmerzwahrnehmung) bedingt sein. Auch an Traumen in der Anamnese ist zu denken, etwa an ein geburtshilfliches Trauma. In sehr vielen Fällen liegt leider ein sexuelles Trauma bzw. Missbrauch vor, so Dörfler.
Sexualfunktionsstörungen
Grundsätzlich sind sexuelle Schmerzen wie Dyspareunie und Vaginismus nicht als „deckungsgleich“ mit chronischem Beckenschmerz zu sehen, wie Prof. Dörfler ausführte. Allerdings haben 12% der Frauen mit chronischem Beckenschmerz auch Probleme mit der Sexualfunktion. Umgekehrt kann etwa bei Vaginismus auch die Beckenbodenmuskulatur betroffen sein, und die Sanierung einer Endometriose kann oft auch eine Dyspareunie beheben, sodass hier durchaus Zusammenhänge zwischen schmerzhaften Sexualstörungen und chronischem Beckenschmerz bestehen und eine interdisziplinäre Ursachensuche oft nötig ist.
Wie Endometrioseschmerzen „ausufern“
Endometriose ist als eine chronische Erkrankung zu betrachten. Ziel soll es sein, mit konservativen Methoden die Schmerzen und andere Symptome unter Kontrolle zu bekommen. Wiederholte Operationen sind möglichst zu vermeiden. Warum? Das erläuterte Prof. Dr. Heinrich Husslein, Universitätsklinik für Frauenheilkunde, Wien: „Endometriose verursacht nicht nur Schmerzen, sondern auch eine chronische Entzündung und führt längerfristig zu einer Veränderung der Schmerzverarbeitung. Die wiederholte oder anhaltende Aktivierung von Nozizeptoren bewirkt eine periphere Sensibilisierung. Über neurogene Inflammation kann es schließlich zu einer zentralen Sensibilisierung kommen.“ Die Folgen sind chronische Überempfindlichkeit und Schmerzen im ganzen Beckenbereich, etwa myofasziale Schmerzen in der Beckenbodenmuskulatur, Brennen im Genitalbereich und in der Blase, Dyspareunie, Kreuzschmerzen etc. Das bedeutet, die Schmerzen kommen jetzt gar nicht mehr primär von den Endometrioseherden. In diesem Krankheitsstadium hilft es daher auch nicht viel, die Herde operativ zu entfernen. Um die Schmerzspirale zu unterbrechen, ist ein umfassender multimodaler Ansatz erforderlich. „Um eine zentrale Sensibilisierung zu verhindern, ist – auch wenn die Endometriose diagnostisch nicht mit Sicherheit bestätigt werden kann – eine frühzeitige Therapie zur Reduktion von Schmerzen sinnvoll“, betonte Husslein.
Psychologische Betreuung ist im Stadium der zentralen Sensibilisierung besonders wichtig, da langjährige Schmerzen im Unterbauch häufig Probleme in der Partnerschaft und Sexualität nach sich ziehen. Die Beckenbodenphysiotherapie stellt einen essenziellen Teil des multimodalen Therapieansatzes dar und sollte sich nicht nur auf den Levatorbereich beschränken, sondern den ganzen Beckenbereich behandeln. Husslein: „In der Beckenbodenphysiotherapie steht bei Endometriose weniger die Stärkung als vielmehr die Entspannung im Vordergrund.“
Ergänzend kann eine Ernährungsumstellung auf mediterrane Diät empfohlen werden. Diese hat in einer Studie des Endometriosezentrums der Wiener Universitätsklinik für Frauenheilkunde zu einer Reduktion der Schmerzsymptomatik geführt.
Die sogenannte interstitielle Zystitis
„Für die interstitielle Zystitis existiert keine einheitliche Definition. Es gibt keine klare Symptomkette und keine Biomarker, aber viele Begleitsymptome“, so Doz. Dr. Nikolaus Veit-Rubin, Universitätsklinik für Frauenheilkunde, Wien. Er bevorzugt daher die neuere Bezeichnung „Blasenschmerzsyndrom“. Die Betroffenen haben oft einen langen Leidensweg und viele erfolglose Therapieversuche hinter sich. Schmerz und irritative Blasensymptome beeinträchtigen alle Lebensbereiche – Alltag, Beruf, Sexualität, Schlaf etc. – und führen oft zu Depression und sozialem Rückzug.
Die Ätiologie ist unklar, höchstwahrscheinlich ist die Ursache der Beschwerden multifaktoriell. Eine Mastozytenaktivierung und Urotheldefekte der GAG-Schicht sind meistens nachweisbar, autoimmune und genetische Faktoren werden vermutet. Seit Kurzem wird auch die Rolle des Harnblasen-Mikrobioms in der Entstehung des Blasenschmerzsyndroms erforscht.
Sichtbare entzündliche Veränderungen in der Blase, die sogenannten Hunner-Läsionen, gelten aus heutiger Sicht als eigenständige Entität und werden nicht mehr dem Blasenschmerzsyndrom zugeordnet, wie Veit-Rubin erklärte.
Diagnostik
Die European Society for the Study of Interstitial Cystitis (ESSIC) hat versucht, Struktur in die Diagnostik und Vorgehensweise zu bringen. Demnach sollte zuerst eine genaue Patientenselektion erfolgen: Chronischer Beckenschmerz, der vom Patienten subjektiv mit der Blase in Verbindung gebracht wird, plus mindestens ein irritatives Blasenproblem (z.B. nächtlicher Harndrang, hohe Miktionsfrequenz o.Ä.) spricht für ein Blasenschmerzsyndrom. Die anschließende Basisdiagnostik umfasst: physikalische Untersuchung, Urinanalyse, Blasentagebuch, Schmerzskala/-fragebogen, Zystoskopie und Ultraschall.
Die Zystoskopie ist nach Meinung von Veit-Rubin die wichtigste diagnostische Maßnahme, vor allem zum Ausschluss anderer Ursachen (Harnwegsinfekt, OAB, Harnsteine, Tumoren, Endometriose). Aber auch Hunner-Läsionen, Glomerulationen und Petechien, die für Blasenschmerz verantwortlich sein können, sind in einer professionell durchgeführten Zystoskopie darstellbar. Wichtig ist es, bei diesen Patienten die Zystoskopie in Narkose durchzuführen, betonte Doz. Dr. Claus Riedel, Abteilung für Urologie, Landesklinikum Baden-Mödling – erstens, weil sie sonst in dieser Indikation sehr schmerzhaft für die Patienten ist, und zweitens, weil eine starke Dehnung der Blase nötig ist, um die genannten Läsionen zu sehen: „Eine ausreichende Distension kann nur in Narkose erreicht werden“, so Riedel. Sollten Hunner-Läsionen gefunden werden, können diese im Rahmen der Zystoskopie sofort verödet werden. Die Distension der Blase hat bei nicht wenigen Patienten auch einen therapeutischen Effekt: Bis zu 78% spüren laut Riedel eine Symptomverbesserung nach der Untersuchung.
Eine Klassifikation des Blasenschmerzsyndroms, welche in den Empfehlungen der ESSIC noch angeführt ist, hat sich laut Veit-Rubin als wenig hilfreich für das weitere Vorgehen herausgestellt und kann daher entfallen.
Therapie
Die Behandlung des Blasenschmerzsyndroms sollte schrittweise erfolgen. Veit-Rubin: „Bitte keine Mischbehandlung!“ Nach jedem Therapieversuch soll eine Schmerzevaluierung stattfinden, bevor weitere Therapieschritte diskutiert werden.
Der erste Schritt in der Behandlung ist eine „rasche und effiziente Schmerztherapie“. Sobald der Schmerz nachlässt, kann mit Physio- und Verhaltenstherapie begonnen werden. Bei der Physiotherapie steht nicht die Stärkung des Beckenbodens im Vordergrund, sondern die Relaxation. Die Verhaltenstherapie beinhaltet Empfehlungen zum Trinkverhalten, Miktionskontrolle, Blasentraining und Stressreduktion. Weiters ist eine Ernährungsumstellung zu empfehlen, insofern, als histaminreiche Ernährung bei den meisten Betroffenen die Symptome verschlechtert.
Zur Schmerztherapie empfiehlt Veit-Rubin orale Analgetika und Antihistaminika sowie Pentosanpolysulfat und Chondroitinsulfat/Hyaluronsäure zur Reparatur der GAG-Schicht. Letztere können auch intravesikal appliziert werden, ebenso Dimethylsulfoxid (DMSO) und Heparin. Die Erfolgsraten bei intravesikaler Therapie sind jedoch nicht besonders hoch und unerwünschte Nebenwirkungen sind häufig, wie Veit-Rubin betonte.
Erweiterte Therapieoptionen sind die zystoskopische Hydrodistension, Botulinumtoxininjektionen in den Detrusor, Neuromodulation, transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS), Cyclosporin A und schließlich die radikale Chirurgie (Zystoplastie, Ureterdeviation).
Am wichtigsten ist jedoch die empathische Unterstützung der Patienten, meint Veit-Rubin: „Konzentration auf die Lebensqualität, beruhigen, gemeinsam Therapieoptionen ausloten, dabei systematisch bleiben und das Selbstmanagement unterstützen.“
Bericht:
Mag. Christine Lindengrün
Quelle:
„Der schmerzhafte Beckenboden“, Webinar der Medizinischen Kontinenzgesellschaft (MKÖ), 9. Oktober 2020