2. Juli 2021
Lokale Behandlung des Primärtumors bei mRCC – wer muss operiert werden?
Die Therapie des metastasierten Nierenzellkarzinoms (mRCC) unterlag in den letzten Jahrzehnten einem rasanten Wandel. Besonders in der systemischen Therapie gab es wesentliche Änderungen in der Erstlinientherapie, beginnend mit der Zytokintherapie (Interferon alpha) über die Einführung der Tyrosinkinase-Inhibitoren (Sunitinib) 2009 bis zur Einführung von Checkpoint-Inhibitoren wie Nivolumab plus Ipilimumab zehn Jahre später.1–3
Während die Systemtherapie einige Neuerungen erfuhr, trat die zytoreduktive Nephrektomie (=operative Entfernung des Primärtumors bei einem metastasierten Nierzellkarzinom) mehr und mehr in den Hintergrund der Therapie des metastasierten Nierzellkarzinoms und des wissenschaftlichen Interesses.1,4–6 Lediglich eine randomisiert-kontrollierte Studie wurde in den letzten fünf Jahren publiziert, die CARMENA-Studie, und diese zeigte keinen Überlebensvorteil der Patienten, die eine zytoreduktive Nephrektomie gefolgt von Sunitinib erhielten, im Vergleich zu Patienten, die Sunitinib alleine erhielten.7 Aufgrund dieses Ungleichgewichts zumindest in der Anzahl der Publikationen befasst sich dieser Artikel mit der Frage, wer heutzutage noch eine zytoreduktive Nephrektomie erhalten sollte.
Kombinationstherapie
Die zytoreduktive Nephrektomie wurde bereits vor der Verwendung von Zytokinen (z.B. Interferon alpha) durchgeführt und zeigte gelegentlich einen Regress (1–4,4%) des metastasierten Nierenzellkarzinoms.8–10 Damit ist die zytoreduktive Nephrektomie potenziell kurativ. Aber für die Mehrheit der Patienten mit einem metastasierten Nierenzellkarzinom wird die zytoreduktive Nephrektomie in einer palliativen Situation durchgeführt und mit einer Systemtherapie kombiniert.2
Die zytoreduktive Nephrektomie wurde seit 2001 standardisiert durchgeführt, nachdem zwei randomisierte Phase-III-Studien einen Überlebensvorteil von bis zu 5,8 Monaten bei Patienten mit Nephrektomie plus Interferon gegenüber Patienten mit Interferonbehandlung alleine gezeigt hatten.11,12 Die kombinierte Analyse dieser zwei Studien ergab ein medianes Gesamtüberleben von 13,6 Monaten für Patienten, die mit Nephrektomie plus Interferon behandelt wurden, gegenüber 7,8 Monaten für Patienten mit alleiniger Interferonbehandlung. Allerdings war auch noch zu diesem Zeitpunkt das Gesamtüberleben mit der zytoreduktiven Nephrektomie weiterhin sehr limitiert.
2009 wurden schliesslich Tyrosinkinase-Inhibitoren (z.B. Sunitinib) eingesetzt und verlängerten das mediane Gesamtüberleben nennenswert auf etwa 20 Monate.1,3 Die zytoreduktive Nephrektomie wurde weiterhin durchgeführt, nun in Kombination mit Sunitinib oder ähnlichen Substanzen, unter der Annahme, dass der therapeutische Vorteil der Nephrektomie weiterhin bestehe.
CARMENA-Studie
Letztendlich untersuchte die Studie CARMENA («Cancer du Rein Metastatique Nephrectomie et Antiangiogéniques») ebendiese Annahme. Die CARMENA-Studie war eine randomisiert-kontrollierte Phase-III-Studie mit einer Nichtunterlegenheitsannahme («noninferiority design»).7 In der Studie wurde die sofortige zytoreduktive Nephrektomie gefolgt von Sunitinib im Vergleich zu Sunitinib allein untersucht. Über einen Zeitraum von acht Jahren wurden 450 Patienten (von geplanten 576 Patienten) an mehr als 79 Zentren in Europa (0,7 Patienten pro Standort pro Jahr) eingeschlossen. Das mediane Gesamtüberleben betrug 18,4 Monate in der Sunitinib-Monotherapie-Gruppe und 13,9 Monate in der Nephrektomie-Sunitinib-Gruppe. Damit zeigte sich in der CARMENA-Studie, dass Sunitinib allein gegenüber der zytoreduktiven Nephrektomie gefolgt von Sunitinib hinsichtlich des Gesamtüberlebens nicht unterlegen war.
Limitationen
Somit stellte diese Studie die allgemeine Annahme und die tägliche Praxis der kombinierten Therapie im Sinne der sofortigen zytoreduktiven Nephrektomie gefolgt von Sunitinib infrage. Allerdings hat die CARMENA-Studie nennenswerte Schwächen: Es wurden weniger Patienten als geplant eingeschlossen (450 Patienten statt der geplanten 576 Patienten). Ausserdem wurden wenige Patienten über einen langen Zeitraum rekrutiert, 0,7 Patienten pro Standort pro Jahr. Dies kann in einer selektierten Patientenkohorte resultieren. Das zeigte sich an dem hohen prozentualen Anteil von 43% an «Poor risk»-Patienten (klassifiziert nach dem «Metastatic Renal Cancer Database Consortium»[IMDC]-Modell; Tab. 1). Die restliche Kohorte bestand aus «Intermediate risk»-Patienten.
Tab. 1: International Metastatic Renal Cancer Database Consortium (IMDC) Risk Model* (n. Heng et al.)19
Und schliesslich, obwohl die CARMENA-Studie nach dem «Intention to treat»-Prinzip konzipiert wurde, ist die Interpretation der Ergebnisse erschwert, da einige Patienten in der Gruppe mit zytoreduktiver Nephrektomie gefolgt von Sunitinib die zugewiesene Therapie nicht erhielten (40 Patienten [–17,7%] erhielten keine Sunitinib-Behandlung und 16 [–7,1%] keine Nephrektomie), während in der Sunitinib-Monotherapie-Gruppe sogar einige Patienten eine zusätzliche Therapie erhielten (11 Patienten [–4,9%] erhielten kein Sunitinib und 38 [+17,0%] unterzogen sich einer verzögerten Nephrektomie).
Weiterhin muss erwähnt werden, dass ein systematischer Review13 von 2018 sowie ein deskriptiver Review14 von 2019 eindrücklich zeigten, dass neben der einzigen randomisiert-kontrollierten Studie (CARMENA) mindestens noch 10 nicht randomisierte Studien mit der gleichen Thematik existierten und einen Überlebensvorteil mit einer zytoreduktiven Nephrektomie beobachteten.13,14
Die Daten, insbesondere die der CARMENA-Studie, raten nicht zur Abkehr von der zytoreduktiven Nephrektomie, sondern unterstreichen vielmehr die Bedeutung einer sorgfältigen Auswahl von Patienten, z.B. mithilfe von Risikomodellen, die sich für eine zytoreduktive Nephrektomie eignen.5,15,16
Patientenselektion & Zeitpunkt
Die These, dass ein ausgewähltes Patientenkollektiv von einer zytoreduktiven Nephrektomie profitiert, unterstützt auch eine Post-hoc-Analyse der CARMENA-Studie von Patienten mit «Intermediate risk»-(IMDC)-Kriterien. Patienten mit einem Risikofaktor, die sich einer zytoreduktiven Nephrektomie unterzogen, hatten ein signifikant längeres medianes Gesamtüberleben als Patienten mit zwei Risikofaktoren (31,4 vs. 17,6 Monate, p<0,015).17 Obwohl die CARMENA-Studie nicht die Möglichkeit bietet, Patienten mit «favorable risk» direkt zu evaluieren, scheint die zytoreduktive Nephrektomie bei diesen Patienten von Vorteil zu sein.
In ähnlicher Weise wie die CARMENA-Studie untersuchte eine weitere randomisiert kontrollierte Studie (SURTIME), ob der Zeitpunkt der zytoreduktiven Nephrektomie, respektive vor oder nach der Sunitinib-Therapie, Auswirkungen auf das progressionsfreie Überleben oder das Gesamtüberleben hatte.18 Hier zeigte sich im primär untersuchten Endpunkt, dem progressionsfreien Überleben, kein signifikanter Unterschied (HR: 0,88, 95% CI: 0,59–1,37, p=0,569). Hinsichtlich des sekundären Endpunkts Gesamtüberleben zeigte sich allerdings ein grosser Vorteil für Patienten mit einer verzögerten zytoreduktiven Nephrektomie mit einem medianen Überleben von 32,4 Monaten gegenüber Patienten mit einer sofortigen zytoreduktiven Nephrektomie mit einem Überleben von 15,0 Monaten (HR: 0,57, 95% CI: 0,34–0,95, p=0,032).18 Gemäss der SURTIME-Studie scheint die Vorbehandlung mit Sunitinib Patienten mit inhärenter Resistenz gegen eine systemische Therapie vor der geplanten zytoreduktiven Nephrektomie identifizieren zu können: Diese Patienten würden nicht von einer Operation profitieren, während Patienten mit einem guten Ansprechen auf Sunitinib durchaus von einer Operation profitieren.
Dennoch sind diese Ergebnisse als explorativ zu werten, da die Studie eine schlechte Rekrutierungsrate hatte und vorzeitig beendet wurde.
Aktuelle Leitlinien
Basierend auf dieser Datenlage empfehlen die aktuellen europäischen Leitlinien die Durchführung der zytoreduktiven Nephrektomie des metastastierten Nierenzellkarzinoms bei ausgewählten Patienten.2 Dazu zählen Patienten mit «Favorable risk»-Kriterien nach dem IMDC-Risiko-Modell (Tab. 1), einer geringen Metastasenlast und einem grossen Primärtumor sowie einem guten Allgemeinzustand. Ebenfalls kann eine zytoreduktive Nephrektomie erwogen werden bei Patienten mit einem guten Ansprechen auf eine systemische Therapie, die sogenannte verzögerte zytoreduktive Nephrektomie gemäss der SURTIME-Studie.2 Nicht empfohlen wird die operative Therapie bei Patienten in einem schlechten Allgemeinzustand, «Poor risk»-Kriterien nach IMDC sowie bei Patienten mit einem kleinen Primärtumor und hoher Metastasenlast und bei histologisch bestätigten Ductus-Bellini-Karzinomen oder sarkomatoiden Nierenzelltumoren.
Systemische Therapie
In der Zwischenzeit gab es allerdings weitere Errungenschaften in der systemischen Tumortherapie. Checkpoint-Inhibitoren (z.B. Nivolumab plus Ipilimumab) zeigten ein verlängertes Gesamtüberleben im Vergleich zum Tyrosinkinase-Inhibitor Sunitinib (medianes Gesamtüberleben nicht erreicht in der Nivolumab-plus-Ipilimumab-Gruppe vs. 26,0 Monate in der Sunitinib-Gruppe; HR: 0,63; p<0,001).1 Auch bei diesen neuen Therapeutika wird sich die Frage stellen, ob und wann eine Kombination mit einer zytoreduktiven Nephrektomie sinnvoll ist. Eine retrospektive Studie der National Cancer Data Base [NCDB] an 391 Patienten (durchgeführt 2015–2016) deutet darauf hin, dass eine kombinierte Therapie von Checkpoint-Inhibitoren und einer zytoreduktiven Nephrektomie der alleinigen Checkpoint-Inhibitor-Therapie hinsichtlich des Gesamtüberlebens überlegen sei (HR: 0,23, p<0,001).
Bei dieser Studie sollten jedoch die Limitationen des retrospektiven Studienkonzepts sowie die Einschränkungen der von der NCDB erfassten Daten berücksichtigt werden. Zukünftige randomisiert-kontrollierte Studien wie die NORdic-Sun-Studie (NCT03977571) und die CYTOSHRINK-Studie (NCT04090710) bleiben abzuwarten, um abschliessende Empfehlungen zu geben. Die NORdic-Sun-Studie rekrutiert «Good-» und «Intermediate risk»-Patienten und vergleicht Nivolumab/Ipilimumab in Kombination mit einer zytoreduktiven Nephrektomie versus Nivolumab/Ipilimumab alleine. Erste Ergebnisse werden voraussichtlich 2025 veröffentlicht. Die CYTOSHRINK-Studie rekrutiert «Poor-» und «Intermediate risk»-Patienten, die keine Kandidaten für eine zytoreduktive Nephrektomie sind, und vergleicht Nivolumab/Ipilimumab in Kombination mit einer stereotaktischen Therapie versus Nivolumab/Ipilimumab alleine. Der Einschluss von Patienten in diese Studie wird im Dezember 2023 beendet.
Fazit
Zusammenfassend stellt die zytoreduktive Nephrektomie weiterhin einen wichtigen Bestandteil des Therapiemanagements des metastasierten Nierenzellkarzinoms dar. Dennoch ist eine sorgfältige Auswahl des Patientenkollektives wesentlich. Behilflich bei der optimalen Auswahl von Patienten, die sich für die zytoreduktive Nephrektomie eignen, können verschiedene Risikomodelle sein, z.B. das IMDC-Modell. Die Daten der randomisiert kontrollierten Studien bezüglich der zytoreduktiven Nephrektomie im Zeitalter der Checkpoint-Inhibitoren bleiben abzuwarten und werden hoffentlich das optimale Patientenkollektiv für die zytoreduktive Nephrektomie genauer identifizieren helfen können.