Aktuelle Leitlinie
Komplementäre
Komplementäre Behandlungen können Patient:innen dabei helfen, Krebstherapien besser zu überstehen. Doch auch wenn viele der Behandlungsmöglichkeiten weder verschreibungspflichtig sind noch eine klinische Überwachung erfordern, gibt es auch bei der Komplementärtherapie in der Onkologie wichtige Empfehlungen. Diese wurden in der aktuellen S3-Leitlinie festgehalten.
Eine große Mehrheit von Krebspatient:innen wünscht sich ein oder mehrere komplementäre Behandlungen und nützt diese neben der klinisch-onkologischen Therapie (Chemo-, Strahlen-, antihormonelle und immunologische Therapien).
Im Unterschied zu alternativen Therapieverfahren sollen diese begleitend die Nebenwirkungen vermindern, die Lebensqualität heben und im besten Falle sogar die Prognose beeinflussen. Komplementäre Verfahren sind daher heute in der modernen westlichen Medizin integrativer Bestandteil onkologischer Maßnahmen.
Komplementäre Therapien
Komplementäre Therapien sind nach dem National Center for Complementary and Alternative Medicine (NCCAM) in fünf Gruppen eingeteilt (Abb.1). In Tabelle 1 werden zur Erläuterung die wichtigsten Verfahren in Mitteleuropa gelistet.
Hauptkritikpunkte der evidenzbasierten Medizin an Komplementärtherapien waren häufig das Fehlen anerkannter Untersuchungsergebnisse zu Wirksamkeit, Sicherheit und Interaktionen mit klinischen Krebsmedikamenten oder onkologischen Verfahren. In den letzten 20 Jahren ist jedoch eine Vielzahl randomisierter komplementärer Studien prominent publiziert worden, die sich wissenschaftlich mit diesen Themen auseinandersetzen und klare Vorgaben zum Einsatz vor, neben und nach klinischen Behandlungen machen.
International sind in allen relevanten medizinischen Universitäten Lehrstühle für komplementäre Therapien eingerichtet worden, die gemeinsam mit den onkologischen Gesellschaften Leitlinien erarbeitet haben.
Eine der ersten Leitlinien wurde 2018 gemeinsam mit der Society for Integrative Oncology (SIO) und der American Society of Oncology (ASCO) in einem der wichtigsten amerikanischen onkologischen Journale publiziert (Journal of Clinical Oncology; JCO). Auch im deutschsprachigen Raum fasste die Arbeitsgemeinschaft für gynäkologische Onkologie (AGO) in einem Update im Jahr 2021 die wichtigsten komplementären Verfahren bezüglich ihrer Wirksamkeit, Toxizität, Behandlung von Nebenwirkungen und Rezidivprophylaxe bei der Behandlung von Brustkrebs zusammen.
S3-Leitlinie Komplementärmedizin
Unter der Leitung von Prof. Dr. med. Jutta Hübner, Jena, erstellten nun im Jahr 2021 nach jahrelanger Vorbereitung die relevanten deutschen onkologischen und komplementären Gesellschaften erstmals gemeinsam die S3-Leitlinie für Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen Patient:innen.1 Diese S3-Leitlinie umfasst 630 Seiten undsystematisch entwickelte Aussagen, die den gegenwärtigen Erkenntnisstand wiedergeben, um die Entscheidungsfindung zu unterstützen.
Sie basiert auf einer systematischen Sichtung und Bewertung der Evidenz und einer Abwägung von Nutzen und Schaden alternativer Vorgehensweisen. Sie formulieren klare Handlungsempfehlungen, in die auch eine klinische Wertung der Ziele und die Aussagekraft und Anwendbarkeit von Studienergebnissen eingehen. Die S3-Leitlinie zählt zu den wichtigsten und relevantesten Leitlinien im klinischen Alltag im deutschsprachigen Raum.
In diesen Leitlinien wird explizit von allen Gesellschaften Folgendes empfohlen:
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Alle Patient:innen sollten frühestmöglich zu komplementären Maßnahmen befragt und wenn möglich auf diese verwiesen werden.
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Komplementär tätige Ärzt:innen sollten Wissen über onkologische Erkrankungen und deren Therapien haben.
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Medizinisches Fachpersonal sollte verstärkt Aus-, Weiter- und Fortbildungen zur qualitätsgerechten Anwendung der Komplementärmedizin als Therapie in der Onkologie absolvieren.
Die Empfehlungen der S3-Leitlinien beziehen sich v.a. auf die Reduktion der Nebenwirkungen (v.a. der Chemotherapien), auf die Verbesserung der Lebensqualität und auf die schnelle Rehabilitation. Onkologische, tumorspezifische Wirkungen zur Verlängerung der Überlebenszeit sind nur in Einzelfällen beschrieben, wobei sonst meist auf die fehlenden Studiendaten verwiesen wird. Ein Beispiel dafür ist die Misteltherapie.
Komplementärmedizinische Therapien
Misteltherapie
Die Misteltherapie existiert schon seit mehr als 100 Jahren und ist die bekannteste und am besten untersuchte komplementäre Therapie in Mitteleuropa. Die wichtigsten zwei Wirkstoffe der Pflanze sind neben zahlreichen anderen die Viscotoxine und die Mistelektine, die einerseits das Immunsystem stimulieren, andererseits auch tumorhemmend wirken. Weiters ist die durch Endorphin-Freisetzung induzierte Schmerzlinderung bekannt sowie ein schützender Einfluss auf negative Wirkungen der Chemotherapie. Teilweise wurde auch eine Verbesserung der Hämatopoese nach zytoreduktiver Therapie beobachtet sowie eine Verbesserung der Immunsuppression.
Die Misteltherapie ist als wässriger Gesamtauszug (Helixor, Iscador) in verschiedenen Stärken zur subkutanen Applikation (2–3x wöchentlich) verfügbar, zu den Behandlungszielen bei Krebspatient:innen zählen Steigerung der körpereigenen Abwehr bzw. der Immun- und Ordnungskräfte, verbesserte Verträglichkeit der Chemo- und Strahlentherapie, Verbesserung des Allgemeinbefindens und der Leistungsfähigkeit sowie die Linderung von tumorbedingten Schmerzen. Weitere Indikationen sind Pleuraergüsse, Ascites und der palliative Einsatz, bei denen die Misteltherapie auch off-label intravenös verabreicht wird. Zu diesen Einsatzgebieten laufen aktuell auch Studien.
Zu den Nebenwirkungen gehören leichte Temperaturerhöhung, Lymphknotenschwellung und entzündliche Lokalreaktionen. Allergische Reaktionen können vor allem bei der i.v.-Anwendung auftreten. Ebenso müssen die Kontraindikationen beachtet werden:
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Überempfindlichkeit gegen einen Bestandteil von Herba Visci albi
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Akut entzündliche bzw. hochfieberhafte Erkrankungen oder akute Hyperthyreose mit Tachykardie (die Behandlung sollte bis zum Abklingen der Entzündungszeichen unterbrochen werden!)
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Chronische Autoimmunerkrankungen (wie Morbus Crohn, Colitis ulcerosa), wenn floride oder mit Immunsuppressiva behandelt (für die Dauer der Aktivierung bzw. Behandlung)
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Während einer onkologischen Therapie mit Zytokinen, wie z.B. Interferonen oder Interleukinen (mögliche Verstärkung der Nebenwirkungen, wie Fieber und Entzündungen) und Immunotherapien
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Hämatonkolgische Erkrankungen (während einer Hochdosis-Chemotherapie zur Unterdrückung des Knochenmarks vor Stammzelltransplantationen)
Generell gilt: Die Misteltherapie (neoadjuvant, adjuvant und palliativ) ist standardisiert und sicher und kann parallel neben jeder Chemotherapie, neben monoklonalen Antikörpern (Avastin, Herceptin usw.), Strahlentherapie sowie antihormoneller Therapie angewendet werden. Die Zukunft der Misteltherapie wird wohl in der intravenösen Applikation liegen, weil erste Studiendaten zeigen, dass die hochdosierte Anwendung noch effizientere Effekte hat.
Ähnlich der AGO-Empfehlungen wird die Misteltherapie auch in der S3-Leitlinie zur Steigerung der Lebensqualität, zur Therapie des Fatigue-Syndroms und zur Reduktion der Nebenwirkungen empfohlen. Sie ist laut Leitlinie vor, während und nach der Chemotherapie bei soliden Karzinomen sicher und zeigt keine Interaktionen mit Chemotherapien.
Die Misteltherapie erhielt in der Leitlinie eine „Kann“-Empfehlung. Auch wenn Daten für eine signifikante Lebensverlängerung bei Patient:innen mit metastasiertem Pankreaskarzinom publiziert sind, so reichen diese Daten noch nicht „für eine abschließende Beurteilung der statistisch onkologischen Wirksamkeit“ aus.
Weitere pflanzliche Therapien
Pflanzliche Therapien reihen sich neben der Misteltherapie ein. Sie haben kein überzeugendes Ergebnis zur Tumorwirksamkeit, wirken aber nachweislich unterstützend beim Erhalt der Lebensqualität und der Reduktion der Toxizität. Zu nennen sind z.B. Boswellia serrata (Weihrauchharz) bei Hirntumoren, Cimicifuga (Traubensilberkerze) bei menopausalen Beschwerden, Ginseng zur Verbesserung des Fatigue-Syndroms, Granatapfel beim Prostatakarzinom, Heilpilze (z.B. Agaricus, Grifola, Coriolus) und Ingwer bei chemotherapieassoziierter Übelkeit, Johanniskraut bei leichten bis mittelschweren Depressionen (cave: Kontraindikation während der meisten Chemotherapien) und Mariendistel und sekundäre Pflanzenstoffe wie Curcumin, grüner Tee und Isoflavone bei verschiedenen Indikationen.
Vitamine und Spurenelemente
Bei der Gruppe der Vitamine und Spurenelemente sind die klinischen Daten zur primären und sekundären Prävention einer Krebserkrankung nicht überzeugend. Bei Beta-Carotin und Vitamin A wurden in Studien sogar negative Effekte in dieser Hinsicht festgestellt.
Bei Vitamin E und C ist der Effekt dosisabhängig. Bei Vitamin E gilt: mehr ist nicht besser. Bei einer Dosierung von mehr als 400IU pro Tag stieg in neun Studien die Sterblichkeit über jene des Placeboarms an. Auch in Studien mit 200IU war bereits ein Trend zu erhöhter Sterblichkeit zu erkennen.
Krebspräventive Effekte konnten v.a. bei Selen nachgewiesen werden, da Selenmangel vermutlich das Krebsrisiko erhöht. Zumindest kann bei den meisten Krebspatient:innen ein signifikant verringerter Selenspiegel nachgewiesen werden. Selen ist u.a. selektiv zytotoxisch für Tumorzellen, verbessert die Krebstherapie und verringert deren Nebenwirkungen (v.a. postoperative Lymphödeme).
Der Effekt einer Hochdosistherapie bei Vitaminen (bis auf Vitamin C i.v.) ist nicht nachgewiesen bzw. ist diese meist kontraproduktiv. Vitamin-C-Infusionen nach der Diagnose waren in zehn RCT-Studien mit einer erhöhten Überlebensrate bei Mammakarzinomen assoziiert. Bewährt haben sich Vitamin-C-Infusionen jedenfalls als Maßnahme gegen das Fatigue-Syndrom in einer Dosierung von 7,5–22,5g/Woche (max. 2x/Woche). Zu den Kontraindikationen zählt die Niereninsuffizienz. Vitamin C sollte zudem nicht parallel zu Selen und an den Tagen der Chemo- bzw. Strahlentherapie appliziert werden bzw. sollten 5 Tage Abstand zur Chemotherapie eingehalten werden.
„Mind and body“-Verfahren
Besonders positiv werden in der Leitlinie „Mind and body“-Verfahren hervorgehoben: Entspannungsverfahren, MBSR (achtsamkeitsbasierte Stressreduktion, Meditationstechniken), Elemente aus dem Qigong oder Tai-Chi, Yoga (sanfte Übungen), Nordic Walking, Kneipp-Anwendungen mit kaltem Wasser, Schröpfmassagen, die Massage von Akupressurpunkten, u.v.m.
Cranio-Sacral-Therapien, Osteopathien und Chirotherapien
Kritischer hinterfragt werden dagegen Cranio-Sacral-Therapien, Osteopathien, Chirotherapien und Shiatsu/Tuina als zusätzliche Therapien während einer Krebstherapie.
Körperliche Aktivität
Besonders intensiv wird die wissenschaftliche Evidenz der körperlichen Aktivität während der gesamten Zeit der Krebserkrankung in der S3-Leitlinie besprochen. Körperliche Aktivität wird mindestens dreimal wöchentlich für etwa 30 Minuten empfohlen – wenn möglich auch während der Zeit der Chemotherapie.
Ganzheitliche Verfahren
Positiv angeführt sind ganzheitliche Verfahren wie Akupunktur/Akupressur oder die Misteltherapie aus der anthroposophischen Medizin. Zur Homöopathie fehlen ausreichende wissenschaftliche Ergebnisse, jedoch scheint sie komplementär zur Chemotherapie mögliche Effekte auf die Lebensqualität zu haben.
Die besten Indikationen sind in Tabelle2 gelistet. Es werden auch Negativempfehlungen ausgesprochen (Tab.3). Eine übersichtsmäßige Zusammenfassung der Wechselwirkungen/Interaktionen mit klinischen Krebsbehandlungen ist in Tabelle4 angeführt.
Fazit
Komplementäre Therapien sind in der modernen Medizin ein wesentlicher Bestandteil des gesamtonkologischen Therapiespektrums. Viele sind nach wissenschaftlichen Erkenntnissen sicher neben klinischen Therapien einsetzbar, haben keine Interaktionen, verbessern die Lebensqualität und reduzieren die Toxizität von Chemotherapien. Die S3-Leitlinie zu Komplementärtherapien ist ein klares Signal zur integrativen Zusammenarbeit zwischen klinischer Onkologie und Komplementärmedizin.
Leiter der Ambulanz für komplementäre Medizin der Universitätsklinik für Frauenheilkunde, Medizinische Universität Wien, AKH Wien
Leiter ÖÄK-Diplom begleitende Krebstherapien
E-Mail: leo.auerbach@meduniwien.ac.at
Univ.-Ass. Prof. Dr. Leo Auerbach
ganzheitliche Systeme
energetische Therapien
Komple-mentär-medizin
Geist-Körper-Medizin
biologische Therapien
körperbasierte Therapien
Abb. 1: Die fünf Gruppen der komplementären Therapie nach dem National Center for Complementary and Alternative Medicine (modifiziert nach dem NCCAM)
Tab. 4: Wechselwirkungen/Interaktionen komplementärer Therapien mit klinischen Krebsbehandlungen (modifiziert nach den S3-Leitlinie 2021)1 (Legende siehe folgende Seite)
Mehr auf ALLGEMEINE+TV
Weitere Details über pflanzliche Behandlungsoptionen bei Krebserkrankungen erfahren Sie in der Aufzeichnung des Webinars von Univ-Ass. Prof. Dr. Leo Auerbach bei ALLGEMEINE+TV am 12. September 2023 auf:
https://www.universimed.com/at/veranstaltungen-aplus oder nützen Sie diesen QR-Code:
Tab. 3:Auswahl an Negativempfehlungen (modifiziert nach der S3-Leitlinie 2021)1
Tab. 2:Auswahl an Positivempfehlungen und Indikationen (modifiziert nach der S3-Leitlinie 2021)1
Tab. 1: Beispiele wichtiger komplementärer Verfahren in Mitteleuropa (modifiziert nach den S3-Leitlinien 2021)1
Tab. 4: Wechselwirkungen/Interaktionen komplementärer Therapien mit klinischen Krebsbehandlungen (Fortsetzung)
Praxis-Tipp
Ausbildung
Seit mehr als zwölf Jahren gibt es das Österreichische Ärzt:innenkammer(ÖÄK)-Diplom „Komplementäre Krebsbehandlungen“, das über den sicheren, wissenschaftlich orientierten Einsatz von komplementären Verfahren vor, neben und nach einer Krebstherapie informiert.