Neue MS-Leitlinie
«Ein ausgezeichneter Rahmen, in dem wir uns evidenzbasiert bewegen können»
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Die Leitline gebe den Rahmen vor, die Behandlung werde aber individualisiert blei-ben müssen und sich zum Beispiel nach Aktivität der Krankheit, Komorbiditäten, Wünschen der Betroffenen oder zeitlichem Verlauf richten, sagt Prof. Enzinger.
MS wird häufig nicht beim ersten demyelinisierenden Ereignis diagnostiziert, sondern oft erst Jahre später. Das ist das Ergebnis einer neuen Studie1 um Prof. Bernhard Hemmer. Wie ordnen Sie dieses Ergebnis ein?
C. Enzinger: Es regt zum Nachdenken darüber an, welche Symptome als mögliche Prodromi einer MS berücksichtigt werden sollten. Das ist wichtig, weil wir mit den revidierten McDonald-Kriterien von 2017 unter Stützung auf MRT-Befunde und Liquor ein sehr potentes Instrument in der Hand haben, um früh und verlässlich zu diagnostizieren. Nur müssen wir diese Methodik auch gezielt einsetzen. So wurden gerade auf dem aktuellen EAN-Kongress Analysen aus einem multizentrischen MAGNIMS-Projekt mit 785 Patienten mit CIS vorgestellt, also einem Erstsymptom verdächtig auf eine demyelinisierende ZNS-Erkrankung. Das mediane Intervall bis zur Diagnose konnte von 13 Monaten auf 3,2 Monate reduziert werden. Dies trifft aber nur dann zu, wenn die Patienten in Spezialkliniken oder MS-Zentren abgeklärt werden.
Haben Sie die Ergebnisse überrascht?
C. Enzinger: Schon vorangegangene Studien haben auf eine gehäufte Prävalenz von Fatigue, Depression, Kopfschmerzen, Angststörungen, Schmerzen, Schlafstörungen oder gastrointestinalen und urogenitalen Störungen noch vor einer MS-Diagnose hingewiesen. Schwierig ist, dass viele dieser Symptome auch in der Allgemeinbevölkerung häufig sind und oft als „unspezifisch“ gelten.
Kollege Hemmer ist überzeugt, dass viele Beschwerden, die bisher einer Prodromalphase zugeordnet wurden, durch die bereits bestehende Erkrankung selbst verursacht werden. Er vermutet, dass die Erkrankung zwar noch nicht diagnostiziert, aber schon voll aktiv ist. Teilen Sie seine Meinung?
C. Enzinger: Einerseits deuten die Daten darauf hin. Andererseits muss man festhalten, dass bei Menschen, die aus anderen Gründen eine MRT-Abklärung erhielten und bei denen MS-spezifische Läsionen in Gehirn und Rückenmark beobachtet werden, nur etwa die Hälfte nach zehn Jahren ein klinisches Ereignis entwickelt. Dieses Risiko von 51,2% erhöht sich bei höherem Alter, Vorhandensein von oligoklonalen Banden im Liquor, infratentoriellen oder spinalen Läsionen in der MRT. Aus der Queens-Square-Kohorte in London wissen wir, dass der Prozentsatz von Patienten mit einem klinisch isolierten Syndrom, die über 30 Jahre keine weiteren Symptome entwickeln, etwa 40% beträgt. Jene, die eine MS entwickeln, haben zu Beginn bereits zahlreiche zerebrale Läsionen. Worauf ich hinauswill: Aus meiner Sicht gibt sich eine aktive, medikamentös zu behandelnde MS recht bald anhand von typischen Schüben zu erkennen. Auch Daten aus Barcelona aus einer CIS-Kohorte mit 401 Fällen über zehn Jahre zeigen, dass eine aggressivere MS sich bereits bei Erstsymptomen anhand einer höheren Zahl von MRT-Läsionen erkennen lässt.
Wie beurteilen Sie das Ergebnis in der Gasperi-Studie, dass die MS-Patienten sich seltener mit Infekten der oberen Luftwege vorstellten?
C. Enzinger: Das finde ich vor allem deshalb interessant, weil so ein Zusammenhang auch für manche MS-Therapeutika wie u.a. Interferone beschrieben wurde und diese auch bei Covid-19 z.T. getestet wurden. Diese Beobachtung deutet darauf hin, dass es einen Schutz vor derartigen Infektionen in Assoziation mit MS geben könnte. Interessant ist auch die klinische Beobachtung, dass viele MS-Betroffene in unserer Spezialambulanz berichten, den Winter über als Einzige in der Familie ohne Atemwegsinfekt durchzukommen.
Welche Punkte in der neuen AWMF-Leitlinie finden Sie gut, was kritisieren Sie?
Die Leitlinie bildet einen ausgezeichneten Rahmen, in dem wir Neurologen uns evidenzbasiert bewegen können. Vieles wird bei der Behandlung der MS aber individualisiert bleiben müssen und sich nach Faktoren wie Aktivität der Erkrankung, Komorbiditäten, Anliegen der Betroffenen oder Entwicklung im zeitlichen Verlauf richten. Ich habe die Leitlinie daher nie als „Kochrezept“ verstanden, sondern als wertvolle Orientierungshilfe. Gut finde ich den Imperativ zur Formulierung eines gemeinsamen Therapieziels und bezüglich Monitoring die Aufforderung, wiederholte und wiederkehrende Aktivität in der MRT unter Therapie als Anlass zu nehmen, das Therapiekonzept zu überdenken.