Komplementärmedizin
Komplementärmedizin in der Onkologie – was gibt es zu beachten?
Die Mehrheit krebsbetroffener Menschen sucht neben der onkologischen Haupttherapie naturheilkundliche Unterstützung. Dies ruftinnerhalb der Ärzt:innenschaft – meist aus Fürsorge für die Patient:innen – immer wieder Skepsis hervor. Dabei kann eine gut überlegte und evidenzbasierte, naturheilkundliche Begleittherapie (Komplementärmedizin) den onkologischen Therapien erfolgreich zurSeite stehen.
Es gibt kaum Zweifel mehr daran, dass onkologische Patient:innen ein ausgeprägtes Interesse an naturheilkundlichen Maßnahmen haben, die die Tumorhaupttherapie begleiten.1,2 Im Durchschnitt nutzen circa 50% aller Patient:innen mit einer Krebserkrankung während oder nach der Tumortherapie mindestens eine komplementärmedizinische Methode (KM).3 Interesse für KM zeigen dabei, in absteigender Reihenfolge, Menschen mit Brustkrebs (80%), Dickdarmkrebs-Betroffene (75%) und Menschen mit Prostatakrebs (8–90%). Häufig sind die behandelnden Onkolog:innen darüber jedoch nicht informiert.4
Doch auch innerhalb der Gruppe der onkologisch tätigen „Professionals“ ist das Interesse an KM zunehmend.5 Dabei spielen individuelle Aspekte wie Vorerfahrungen, Einstellungen oder Arbeitsplatzsituation eine Rolle.6 Nur vermuten, jedoch annehmen lässt sich, dass auch die 2021 veröffentlichte S3-Leitlinie für Komplementärmedizin in der Onkologie7 eine Öffnung der Ärzt:innenschaft für die Thematik KM fördert.
Komplementärmedizinische Therapien zielen neben einer zielgerichteten biologisch-physiologischen Beeinflussung des Organismus gleichzeitig auf eine verbesserte Selbstwirksamkeit ab, auf das „Self-Empowerment“. Dieses spielt im individuellen Umgang mit Krebs eine ernst zu nehmende Rolle und sollte möglichst von den behandelnden Ärzt:innen wertgeschätzt und gefördert werden.
Komplementärmedizin – um was geht es eigentlich?
Es gibt kaum einen Bereich in der Medizin, der von so vielen – bis hin zu sagenumwobenen – Begriffen und (Un-)Verständnis gekennzeichnet ist wie die Komplementärmedizin. Daher zunächst eine begriffliche Standortbestimmung:
1. Komplementärmedizin
Der Begriff „komplementär“ betont den die onkologische Haupttherapie ergänzenden Aspekt von meist natürlichen beziehungsweise naturnahen Verfahren. Insbesondere durch Linderung von Nebenwirkungen einer Systemtherapie fördern solche Verfahren vor allem die Lebensqualität (QoL). Komplementärmedizin kommt potenziell jedoch auch zur Rezidivprophylaxe8 oder als Chemo- oder Radiosensitizer9,10 infrage. Innerhalb der Onkologie sollten naturheilkundliche Therapien ausschließlich unter diesem ergänzenden Ansatz erfolgen.
2. Alternativmedizin
Alternativmedizin beschreibt naturheilkundliche Maßnahmen, die ohne Verankerung in verlässlichen, wissenschaftlichen Daten anstelle der konventionellen onkologischen Therapie verwendet werden.11 Dieser Ansatz verbietet sich naturgemäß im Rahmen der Onkologie.
3. Naturheilkunde
Bei der Naturheilkunde handelt es sich im weitesten Sinne um „natürliche Heilfaktoren, deren Ausprägung und Anzahl aber offengelassen werden muss“.12 Im deutschsprachigen Raum gelten die Phytotherapie oder Maßnahmen der Thermoregulation im Rahmen der klassischen Naturheilverfahren als Hauptvertreter der Naturheilkunde.7
Hinter dem Begriff Komplementärmedizin verbirgt sich darüber hinaus eine Vielzahl weiterer Schlagworte. Angelehnt an die Kategorien der erwähnten S3-Leitlinie für Komplementärmedizin in der Onkologie lohnt sich die Beschäftigung mit folgenden Begriffen:7
„Whole medical systems“ (medizinischeSysteme)
Neben den klassischen Naturheilverfahren sind an dieser Stelle etwa die traditionelle chinesische Medizin (TCM), die Homöopathie, die ayurvedische und die anthroposophische Medizin zu nennen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie in sich geschlossene Einheiten bilden, die für sich genommen stringent sein können, jedoch unserem westlichen Verständnis von Medizin oftmals zunächst entgegenzustehen scheinen.
Mind-Body-Verfahren
Die sogenannte Mind-Body-Medizin (M-B-M) zählt zu den mittlerweile am aktivsten beforschten Gebieten der KM und nimmt vermutlich auch deshalb in der S3-Leitlinie einen prominenten Platz ein.7 Vertreter der M-B-M sind unterschiedliche Meditationsformen, achtsamkeitsbasierte Stressreduktion („mindfulness-based stress reduction“, MBSR) sowie Yoga oder Qigong.
Manipulative Körpertherapien
Unbestreitbar spielen in eigentlich allen medizinischen Ansätzen körperorientierte Therapien wie die Chirotherapie, die klassische schwedische Massage oder einige Formen der Hyperthermie eine wichtige Rolle. Innerhalb unserer westlichen Medizin vertreten dabei einige Strategien der Physiotherapie die manipulativen Körpertherapien.
Biologische Therapien
Hierbei handelt es sich um zumeist dem Organismus zugeführte Substanzen wie Phytotherapeutika, sekundäre Pflanzenhilfsstoffe, Vitamine, Mineralien oder Spurenelemente.
Integrative Onkologie
Ein letzter Begriff: die integrative Onkologie (IO). Sie zu kennen ist besonders gewinnbringend, um die unterschiedlichen Strömungen der KM in Verbindung mit den onkologischen und supportiven Therapien in Einklang zu bringen. Denn die IO weist auf die Vereinbarkeit der onkologischen Haupttherapie und Begleitmaßnahmen mit einer möglichst evidenzbasierten Komplementärmedizin hin:
„Integrative oncology is a patient-centered, evidence-informed field of cancer care that utilizes mind and body practices, natural products, and/or lifestyle modifications from different traditions alongside conventional cancer treatments. Integrative oncology aims to optimize health, quality of life, and clinical outcomes across the cancer care continuum.“13
Bei welchen Anliegen oder in welchen Situationen sollte die Komplementärmedizin in Erwägung gezogen werden?
Tabelle 1 gibt übersichtlich und chronologisch entlang des Erkrankungskontinuums die in der alltäglichen KM-Beratung auftretenden Fragestellungen wider. Sie lehnen sich an die Literatur2 wie auch eigene Erfahrungen an.
Die hervorgehobenen Aspekte „Linderung von Nebenwirkungen“, der „Wunsch nach Vorbeugung einer Wiedererkrankung bzw. eines Erkrankungsprogresses“ und das „Bedürfnis, sich als Betroffene/Betroffener selber in die Heilung einzubringen“ sind erfahrungsgemäß die Hauptanliegen, weshalb sich Menschen an Einrichtungen wie die Beratungsstelle für Komplementärmedizin und Naturheilkunde des Comprehensive Cancer Center München (CCCMünchen) wenden. Nicht immer kommt es zwangsläufig zur Umsetzung der Empfehlungen. Manchmal kann es ausreichen, sinnvolle Handlungsmöglichkeiten wie die Akupunktur bei Arthralgien/Myalgien unter langjähriger antiöstrogener Therapie aufzuzeigen, um die Schwelle zur Haupttherapie, etwa einem Behandlungsversuch mit Aromatasehemmern, zu senken.
Onkologische Komplementärmedizin: Evidenz&Entscheidungsfindung
Die wissenschaftliche Erkenntnislage zu Wirkweise, klinischer Wirksamkeit und Sicherheit der meisten komplementärmedizinischen Verfahren im Rahmen der Onkologie muss weiterhin als sehr unbefriedigend bezeichnet werden. Daran ändert die erwähnte S3-Leitlinie auch nur bedingt etwas,7 deren Aussagekraft unmittelbar von den Fragestellungen, der Qualität und der Anzahl der zugrunde liegenden Studien abhängt. Dass es hierbei noch eklatanten Nachholbedarf gibt, problematisiert selbst die S3-Leitlinie.
Eine komplementärmedizinische Beratung muss, besser darf sich jedoch nicht ausschließlich auf die „externe“, rein wissenschaftliche Evidenz stützen, sondern sollte allen drei Entscheidungssphären der evidenzbasierten Medizin folgen:14
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wissenschaftliche Evidenz der Methode
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ärztliche Interpretation der wissenschaftlichen Evidenz und ärztliche Erfahrungen
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individuelle Vorstellungen und Erwartungen der Patient:innen
Selbstverständlich kommt in der Onkologie der externen, wissenschaftlichen Evidenz ein gewichtiger Part zu, um zumindest mit größtmöglicher Sicherheit auszuschließen, dass eine KM die Haupttherapie stört. Wesentlich in der Abwägung für oder gegen KM-Maßnahmen sind jedoch ebenso die wissenschaftliche Deutungs- und erfahrungsheilkundliche Kompetenz der KM-Berater:innen und KM-Anbieter:innen sowie die Haltung der betroffenen Patient:innen.
In der Praxis der Entscheidungsfindung zu Komplementärmedizin hat sich folgender Algorithmus bewährt:
Was ist sinnvoll (analog Empfehlungsstärke „soll und sollte“ in der S3-Leitlinie)?Was ist akzeptabel bzw. möglich (analog Empfehlungsstärke „kann“ in der S3-Leitlinie)?Was verbietet sich (analog Empfehlungsstärke „soll und sollte nicht“ in der S3-Leitlinie)?Wann kann man einer komplementärmedizinischen Maßnahme zustimmen?
Falls sie weitestmöglich wissenschaftlich evidenzbasiert istWenn die Maßnahmen von erfahrenen Behandelnden mit onkologischen Kenntnissen ausgeübt werden; um die Beachtung von eventuellen Risiken der Therapien sicherzustellenWenn die KM-Therapien finanziell und vom Zeitaufwand vertretbar sindWann sollte man eine komplementärmedizinische Maßnahme ablehnen?
Falls sie im Sinne einer Alternativmedizin angewendet wirdFalls sie symptomatisch so effektiv ist, dass Warnsymptome überdeckt bzw. übersehen werdenFalls die Risiken nicht ausreichend beachtet werden (Interaktionen etc.)Falls v.a. psychische Probleme wie Ängste mittels Komplementärmedizin ausgelagert werdenFalls „abgezockt“ wirdWas sollten Ärzt:innen ihren Patient:innen hinsichtlich Komplementärmedizin mit auf den Weg geben?
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Jede Kommunikation zu KM fängt mit der aktiven Bereitschaft an, die Thematik emotional und ideologisch unvoreingenommen gegenüber den Patient:innen anzusprechen. Der Praktikabilität wegen könnten Patient:innen beim Erstbesuch in der onkologischen Praxis oder auf der Station im Krankenhaus ein Formular erhalten, das das Interesse an Komplementärmedizin abfragt und in dem darum gebeten wird, eine eventuelle Eigeninitiative anzusprechen.
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Die Patient:innen sollten frühzeitig über Chancen und Risiken von KM und über seriöse Internetportale zu KM in der Onkologie aufgeklärt werden.15–18
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Sollten Patient:innen ein aktives Interesse an KM zeigen, können schon vonseiten der onkologischen Einrichtung „Hilfe zu Selbsthilfe“-Maßnahmen aufgezeigt werden. Beispielsweise sind bei durch Chemotherapie bedingter Nausea unkompliziert ernährungsmedizinische Hinweise wie die Nutzung von Ingwertee oder schriftliche Erläuterungen von Akupressur, die von Patient:innen selbst durchführbar ist, vermittelbar.
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Sollten die Eigenmaßnahmen nicht ausreichen, könnte die Weitervermittlung an seriöse komplementärmedizinische Anbietende weiterhelfen, in obigem Fall etwa Akupunkteur:innen.20
Fazit
Die Komplementärmedizin ist aus dem onkologischen Setting nicht mehr wegzudenken. Vielmehr ermöglicht eine offene Kommunikation über KM einen neuen, vertrauensbildenden Zugang zu den Patient:innen.
Eine mithilfe von Komplementärmedizin verbesserte Lebensqualität fördert indirekt die Therapiefähigkeit, die Autonomie, die Adhärenz und die Zufriedenheit der Betroffenen. In letzter Konsequenz verbessert sich dabei möglicherweise auch das Outcome der oftmals stark belastenden onkologischen Therapien.◼
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Tab. 1:Auftretende Fragestellungen in der alltäglichen KM-Beratung übersichtlich und chronologisch entlang des Erkrankungskontinuums
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Dieses Vorgehen sei am Beispiel „Förderung der Lebensqualität“ in der S3-Leitlinie veranschaulicht:7