Interventionelle Psychiatrie
Personalisierung und Stratifizierung von Therapien mittels Elektrophysiologie
Die personalisierte Medizin hat in vielen medizinischen Fachbereichen bereits Einzug gehalten – in der Psychiatrie sind die Fortschritte diesbezüglich eher zögerlich. Aus elektrophysiologischen Untersuchungen abgeleitete Biomarker können auf dem Weg zur Personalisierung zur Stratifizierung von Therapieoptionen herangezogen werden.
Stellen sie sich vor, Sie stürzen beim Velofahren: Mit verletztem Arm kommen Sie in die Notaufnahme und der diensthabende Chirurg fragt Sie, wie stark die Schmerzen sind, auf einer Skala von 1–10. Falls Sie sagen, der Schmerz ist eine «2», erhalten Sie etwas Paracetamol und können nach Hause gehen, bei einer «6» gibt es einen Gips und bei einer «10» wird operiert. Sie würden sich vermutlich fragen, wo Sie gelandet sind und ob nicht eine objektive Diagnostik vor der Wahl der Behandlung angebracht wäre.
Und nun stellen Sie sich vor, Sie leiden seit über 14 Tagen an depressiven Symptomen und gehen zum Psychiater. Auch wenn die Wahl der Behandlung im Falle einer affektiven Störung nicht ganz so dem Zufall überlassen wird wie im obigen Beispiel: Es fehlen, neben den Prozessalgorithmen der nationalen und internationalen Guidelines,1,2 objektive und evidenzbasierte Entscheidungshilfen im Sinne biologischer Marker für die Optimierung der psychiatrischen Behandlungsentscheidungen.3,4
Auf dem Weg zur personalisierten Medizin: Stratifizierung der Behandlungsgruppen
Um diese vom subjektiven Empfinden der Behandler:innen gefärbte Medizin zu überwinden, wird auch in der Psychiatrie immer mehr von einer personalisierten Medizin berichtet. Durch Verwendung biologischer Marker und Profile werden dabei jedem Individuum im besten Fall die effektivsten individualisierten Behandlungsschritte empfohlen. Ein Beispiel wäre die massgeschneiderte antikörperbasierte Therapie eines Tumors.5 Da es bis zur vollständigen Individualisierung in der Psychiatrie noch ein weiter Weg ist, empfiehlt es sich, aktuell eher von einer Stratifizierung der Behandlung zu sprechen.6,7
Höhere Ansprechwahrscheinlichkeit und effizienter Ressourceneinsatz
Eine Stratifizierung in Behandlungsgruppen ist wichtig bei der konventionellen Pharmakotherapie, macht aber auch Sinn im Hinblick auf neue und aufwendige Behandlungsmethoden in der Psychiatrie, z.B. bei sogenannter Therapieresistenz. Schnell wirksame neuere Antidepressiva wie das Ketamin und Esketamin sind aufwendig in der Behandlung (Monitoring nach jeder Gabe im ambulanten Setting), bei anderen evidenzbasierten Interventionsmethoden wie der transkraniellen Magnetstimulation stehen grosse Aufwände (Beschaffungskosten des Gerätes) einer noch unklaren Kostendeckung gegenüber. Auch aktuell diskutierte Therapieansätze mit psychedelischen Substanzen könnten einen hohen Mehraufwand bei Personal und Kosten bedeuten.8 Hier könnte eine Biomarker-geleitete Stratifizierung zur Erhöhung der Ansprechwahrscheinlichkeit sinnvoll sein, um die knappen Ressourcen im Gesundheitswesen gezielter einzusetzen.
Und auch trotz dieser vielversprechenden und effektiven neuen Behandlungsmethoden sprechen ohne vorangegangene Stratifizierung nur 40–50% der Patient:innen auf konservative oder modernere First-Line-Behandlungen an.6 Das bedeutet im Gegenzug, dass teure und aufwendige Interventionen bei einem grossen Teil der Betroffenen nicht zum gewünschten Erfolg führen. Hier wäre es wichtig, durch die Verwendung entsprechender Marker die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass die jeweils gewählte Behandlung die richtige ist, um die Behandlungsdauer bis zur Genesung zu verkürzen. Es geht in diesem Sinne weniger darum, eine vollständige Gewissheit für ein positives Ansprechen (Response oder Remission) zu haben, als vielmehr darum, die Wahrscheinlichkeit, die richtige Therapie gewählt zu haben, zu erhöhen.
Biologische Marker als Basis für eine Stratifizierung
Neben bildgebenden Verfahren und laborchemischen Untersuchungen sind in der Psychiatrie auch elektrophysiologische Untersuchungen (Abb.1) Bestandteil apparativer Diagnostik, aktuell meist zum Ausschluss neurologischer Ursachen psychiatrischer Symptome.9 Das Elektroenzephalogramm, dessen Erstbeschreibung beim Menschen durch Hans Berger10 vor genau 100 Jahren (1924) zu den Meilensteinen der Medizingeschichte gehört, bietet eine kostengünstige Methode zur Erfassung neuronaler kortikaler Aktivität. Die Vorteile dieser Methode liegen in der sehr hohen zeitlichen Auflösung, welche es erlaubt, Gehirnzellen genau in dem zeitlichen Fenster zu beobachten, in dem neuronale Aktivität abläuft, nämlich im Millisekunden-Bereich. Ausserdem handelt es sich beim EEG nicht um einen Surrogatmarker neuronaler Aktivität, sondern es werden Informationen über die tatsächlichen elektrischen Felder der exzitatorischen postsynaptischen Potenziale im Zentralnervensystem gesammelt.11 Um im Gegensatz dazu die Aktivität des autonomen Nervensystems besser zu verstehen, hat sich die Verwendung der Zeitreihen des Elektrokardiogramms (EKG) etabliert, um mittels Herzratenvariabilität Auskunft über die Aktivität des sympathischen und parasympathischen Nervensystems zu erhalten.
Welche Marker gibt es nun im EEG und EKG, die bei der stratifizierten Behandlung psychiatrischer Erkrankungen verwendet werden könnten? Seit einer vielbeachteten Arbeit im Jahr 2018 über den Stand der EEG-Marker bei der Prädiktion und der Kritik12 an fehlender unabhängiger Replikation hat sich viel getan: Als eine der ersten replizierten Biomarker konnte die sogenannte EEG-Alpha-Asymmetrie etabliert werden. Eine rechtsfrontal dominant ausgeprägte Alpha-Rhythmus-Aktivität (8–12Hz) im Ruhe-EEG ist mit einer signifikant höheren Remissionsrate bei Behandlung des depressiven Syndroms mittels SSRI (Sertralin und Escitalopram) assoziiert als bei Behandlung mit einem SNRI (Venlafaxin), allerdings nur bei Frauen.13 Eine unabhängige Replikation konnte diese Ergebnisse wenig später betätigen.14 Ein weiterer wichtiger Marker in diesem Zusammenhang ist die sogenannte Alpha-Peak-Frequenz (APF), also der Ruhe-Grundrhythmus des Gehirns. Mehrere Studien und Replikationen konnten zeigen, dass die effektivste Behandlung stark von diesem Rhythmus abhängig ist. Während ein Grundrhythmus >10 Hz für ein sehr gutes Ansprechen eines rTMS-Protokolls über dem rechten dorsolateralen präfrontalen Kortex (rDLPFC) spricht, sollte bei ca. 10Hz für die beste Wirksamkeit ein Protokoll mit 10Hz Stimulationsfrequenz über dem linken DLPFC gewählt werden.15 APF im niedrigen Bereich sprechen besser auf das SSRI Sertralin16 an und auch die EKT zeigt hier die höchsten Responseraten.17
Ein weiteres Konzept zur Behandlungsoptimierung findet sich im sogenannten EEG-Vigilanzmodell affektiver Störungen.18,19 Hegerl postuliert, dass depressive Syndrome eher mit einer rigiden Regulation der Wachheit (Einschlafprobleme, Grübelneigung) und manische Syndrome eher mit einem schnellen Abfall der Vigilanz korrelieren.20 Die Symptome auf der Verhaltensebene (Rückzug bei Depression, «sensation-seeking» bei Manie) sind als gegenregulatorische Phänomene zu verstehen. Neben dem potenziell diagnostischen Wert der mittels des EEG erfassbaren Vigilanzregulation unter Ruhebedingungen21 hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass die verschiedenen Regulationstypen auch Informationen über das Ansprechen auf antidepressive Medikation geben können: Patient:innen mit einem schnellen Abfall der Vigilanz unter 2 Minuten Ruhemessung zeigen ein besseres Ansprechen auf SSRI (Sertralin und Escitalopram) als auf das SNRI Venlafaxin.22 Diese Ergebnisse wurden repliziert.23 Ein Anstieg des Tonus des vegetativen Nervensystems mit Anstieg der Herzfrequenz unter Ruhebedingungen wiederum ist mit einem besseren Ansprechen auf Venlafaxin assoziiert.22 In einer weiteren Analyse eines RCT mit Ketamin und der Replikation der Ergebnisse anhand von Daten eines zweiten RCT konnte weiter gezeigt werden, dass die Wirksamkeit bei Ketamin (i.v.) verbessert ist bei einem hohen Anteil der EEG-Vigilanzstadien A124 und bei Herzraten über 76bpm.25
Ausblick
Die oben genannten Beispiele sind exemplarisch und nicht erschöpfend. Eine grosse Herausforderung ist es, diese wissenschaftlichen Errungenschaften auch in die Klinik zu transportieren. Zum einen, um die Wirksamkeit der Stratifizierung weiter und auch mit prospektiven klinischen Studien untersuchen zu können, zum anderen aber auch, um Patienten von den Ergebnissen profitieren zu lassen. Auch wenn prospektive Studien in diesem Bereich noch selten sind, zeigen erste Open-Label-Versuche vielversprechende Ergebnisse.26 Man sollte sich auch bewusst sein, dass die Verwendung der Marker zur Behandlungsstratifizierung nur Interventionen alloziert, die zur Behandlung zugelassen und entsprechend wirksam und sicher sind. Das Risiko einer Fehlbehandlung oder eines Schadens durch Stratifizierung ist demnach sehr gering und entspricht dem der gewählten Behandlungsmethode. Dem gegenüber steht eine mögliche Erhöhung der Response- oder Remissionsraten von 10–20% pro Biomarker bzw. Behandlungsmethode.22,27 In der Erwachsenenpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) wird, wenn die Patient:innen zustimmen, seit Ende 2023 ein automatisierter EEG/EKG-Bericht erstellt. Dieser gibt Auskunft über Werte einzelner Parameter (Biomarker) im Routine-Ruhe-EEG und EKG und enthält Hinweise aus der wissenschaftlichen Literatur auf Behandlungsmöglichkeiten mit erhöhter Ansprechwahrscheinlichkeit auf Basis der individuellen Markerkonstellation. Dieser Report stellt einen Anfang dar für eine stratifizierte Therapie in der Psychiatrie und soll helfen, unseren Patient:innen schneller und effektiver helfen zu können.◼
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Abb. 1: Elektrophysiologische Untersuchungen, die Marker für eine Stratifizierung in der Psychiatrie liefern können
© Markus Breulmann