Metastasiertes Hodenkarzinom

Metastasierte Keimzelltumoren des Hodens – welchen Algorithmus wählen?

Die Tumorhistologie und die prognostische Einteilung nach IGCCCG sind bei metastasierten Keimzelltumoren des Hodens die Eckpfeiler der Therapieentscheidung. Expert:innen widmeten sich dem seltenen Schwerpunktthema metastasiertes Hodenkarzinom im Rahmen des 9. Michael J. Marberger Meeting am 15. Dezember 2023 in Wien und diskutierten therapeutische Ansätze und das Management von Seminomen und nichtseminomatösen Keimzelltumoren.

Rezidive und Behandlungs-assoziierte Komorbiditäten sind im Erkrankungsverlauf und bei gängigen Therapien von Seminomen im Frühstadium häufig auftretende Komplikationen. Die Prävalenz von Keimzelltumoren des Hodens verteilt sich je zur Hälfte auf Seminome und nichtseminomatöse Keimzelltumoren (NSGCT). Ein wesentlicher Unterschied liegt in der Stadienverteilung der verschiedenen Keimzelltumoren des Hodens, da Seminome weitaus häufiger im Frühstadium (Stadium I in 80% der Fälle) detektiert werden, als es bei NSGCT der Fall ist (33%).

Active Surveillance bei Stadium-I-Seminomen

Aus Therapietrends in den USA aus dem Jahr 2011 lässt sich seit der Jahrhundertwende ein Befürworten der Active Surveillance (AS) nach Orchiektomie bei Patienten mit Stadium-I-Seminomen ableiten. Mittels retrospektiver Datenanalyse aus dem Jahr 2014 von Patienten mit Stadium-I-Seminomen wurden in einem medianen Follow-up von 52 Monaten die Häufigkeit von Rezidiven unter AS nach Orchiektomie und deren Effektivität ausgewertet.1 Bei einer Gesamtzahl von 1344 Patienten traten bei 13% im Beobachtungszeitraum Rezidive auf (n=173).1 Das krankheitsspezifische Überleben (DFS) und das Gesamtüberleben (OS) lagen bei 99%, der mediane Zeitraum bis zum Auftreten eines Rezidivs bei 14 Monaten.1 87% der Rezidive konnten mittels Computertomografie (CT) des Abdomens initial detektiert werden.1 Die Effektivität der Detektion von Lymphknotenrezidiven mittels CT bei Stadium-I-Seminomen unter AS mit einer Rezidivdetektionsrate von ca. 97% ist schon seit 2010 bekannt.2 Die Leitlinien des National Comprehensive Cancer Network (NCCN) geben hierzu Intervalle für Abdomen-/Becken-CTs bei Patienten unter AS nach erfolgter Orchiektomie vor.3 „Zukünftig sollten hier optimale Intervalle für Post-OP-CT- und MRT-Bildgebungen definiert werden“, betont Dr. Joel Sheinfeld, Deputy Chief und Direktor des Urology Fellowship Program des Memorial Sloan Kettering Cancer Center, New York, USA. Der Experte hebt die AS mit regelmäßiger CT-Rezidivdetektion bei Stadium-I-Seminomen hervor.

CTx & RTx vs. retroperitoneale Lymphknotendissektion

Im NCCN-Therapiealgorithmus von Stadium IIA- und IIB-Seminomen besteht in beiden Stadien eine starke Gewichtung auf Strahlentherapie (RTx) bzw. Chemotherapie (CTx).4 Das Risiko, durch die Therapietoxizität einer RTx oder CTx Langzeitfolgen zu entwickeln, erstreckt sich über einen sehr langen Zeitraum nach Erstdiagnose.5 Kardiovaskuläre Erkrankungen (CVD) können demnach 10–15 Jahrebzw. sekundäre Malignome (SMN) sogar 20–25 Jahre nach Diagnosestellung auftreten.5 „Das kumulative Risiko für CVD/SMN nach CTx- bzw. RTx-Behandlung von Keimzelltumoren ist damit weitaus höher, als es in Daten zur retroperitonealen Lymphknotendissektion der Fall ist“, so Sheinfeld.

In einer kleinen Phase-II-Studie zur retroperitonealen Lymphknotendissektion (RPLND) bei früh metastasierten Seminomen wurden 55 Patienten mit Stadium-I- und/oder Rückfall auf Stadium-IIA/B-Seminome (25%) bzw. mit Stadium-IIA/B-Seminomen bei Erstpräsentation (75%) inkludiert.6 Das primäre Ergebnis der Studie war ein Rezidiv-freies Überleben (RFS) von 2 Jahren bei 81% der Patienten, die eine RPLND erhielten.6 Die COTRIMS-Studie bestätigte bei noch kurzer Nachbeobachtungszeit die hohe Heilungsrate durch RPLND bei Stadium-IIA/B-Seminom-Patienten (RFS: 90%; Abb. 1).7 Eine RPLND war zudem mit deutlich weniger Behandlungs-bezogener Morbidität assoziiert, als es im COTRIMS-Patientenkollektiv mit indizierter RTx- und CTx-Therapie der Fall war.7 Diese Strategie ist aktuell noch Studien vorbehalten.

NSGCT – Post-Chemotherapie-Restmasseresektion und Metastasektomie

Die EAU-Leitlinien empfehlen, nach Chemotherapie bei nichtseminomatösen Keimzelltumoren residuelle Metastasen in allen Arealen vollständig zu resezieren.8 In der klinischen Praxis braucht es dafür eine sehr hohe chirurgische Expertise, um bei oft komplexer anatomischer Lokalisation der Restmassen den geeigneten Zugangsweg retroperitoneal, suprahilär und retrokrural zu wählen. „Präoperativ sollte immer der beste Zugangsweg zur Tumorrestmasse, zu großen retroperitonealen Gefäßen bzw. zu benachbarten Organen abgewogen werden“, so Univ.-Prof. DDr. h.c. Axel Heidenreich, Klinikdirektor und Leiter des Uro-onkologischen Zentrums der Universitätsklinik Köln, Deutschland. „Denn sobald eine RPLND, die bereits durchgeführt wurde, wiederholt werden muss, ist der Eingriff immer als komplexe Situation einzustufen, da häufig zusätzlich eine Resektion von benachbarten Organen wie Niere, Duodenum, Milz und Leber und eine Resektion der retrokruralen Lymphknoten indiziert sind.“

Sheinfeld hebt hier die Wichtigkeit bilateraler Templates (e.g. anatomische Grenzen des rechten und linken Retroperitoneums) in der RPLND-Chirurgie hervor. Sie vergrößern aber optimieren anders als unilaterale Templates den therapeutischen Wert des Eingriffs und das Tumorstaging. „Modifizierte Templates sind onkologisch definitiv unterlegen, da es leicht zu Unterklassifizierungen des Stadiums und möglicherweise zu einer nicht ausreichenden Behandlung des Retroperitoneums kommen kann“, so Sheinfeld.

Resektion benachbarter Organe und von Gefäßen

Der Eingriff zur Organresektion ist in 10–15% der Fälle nach Chemotherapie notwendig, um kein vitales Krebsgewebe oder Teratom zurückzulassen.9 Es gibt prädiktive Marker, die eine vaskuläre Resektion der Vena cava inferior oder der Aorta abdominalis und eine venöse/arterielle Beteiligung bei Patienten wahrscheinlich machen. Eine vaskuläre Resektion ist häufiger notwendig bei intermediärer/schlechter Prognose verglichen mit guter Prognose (14,1% vs. 4,8%; p=0,0047), bei Residualtumoren >5cm vs. Residualtumoren <5cm (17,9% vs. 3,7%; p=0,0001) bzw. bei Residualtumoren, die zwei Drittel des Gefäßdurchmessers der Vena cava oder der Aorta umhüllen.10

Die Häufigkeit von Operations-assoziierten Komplikationen bei gefäßchirurgischem Eingriff unterscheidet sich nicht wesentlich von derjenigen einer nichtkomplexen RPLND-Operation.9 „Wann auch immer ein benachbartes Organ reseziert werden muss, muss dieser Eingriff zwingend durchgeführt werden, denn die meisten Post-Chemotherapie-RPLNDs sind kurative Eingriffe“, betont Heidenreich.

Salvage-Therapiestrategie – Tumorrezidiv nach konventioneller CT

„20–30% der Patienten mit Keimzelltumoren des Hodens haben, abhängig von den prognostischen Faktorennach IGCCCG einen Rückfall nach erfolgter Erstlinientherapie und die Prognose nach Zweitlinientherapie ist ungünstig“, so Prof. Dr. Maria De Santis, Sektionsleiterin interdisziplinäre Uro-Onkologie der Charité Berlin, Deutschland. In einer Rückfallsituation sind daher prognostische Marker zur Prognoseabschätzung von Vorteil, an die eine Salvage-Therapiestrategie angelehnt werden kann. In einer Metaanalyse von Lorch et al. wurden als unabhängige prognostische Variablen zur Prognoseabschätzung die Tumorhistologie, die primäre Tumorlokalisation, das Ansprechen und die Länge des progressionsfreien Intervalls nach Erstlinie, Tumormarker (AFP, HCG) sowie Leber-, Knochen- und Gehirnmetastasen zum Zeitpunkt der Salvage-Therapie ermittelt.11 Zusammengefasst ergibt sich daraus die International Prognostic Factors Study Group Classification, durch die eine Aussage über den Zeitraum des PFS bei Keimzelltumorrezidiv getroffen werden kann (sehr niedriges bis sehr hohes Risiko für Progression).

Hochdosis vs. konventionelle Dosis bei Salvage-Chemotherapie

Zur Effektivität der konventionellen Dosis bei Salvage-Chemotherapie („salvage conventional-dose chemotherapy“, SCDCT) liegen derzeit keine großen randomisierten Studienergebnisse vor. Lediglich mit dem TIP-Regime (Paclitaxel, Ifosfamid, Cisplatin) als Zweitlinientherapie konnte eine krankheitsfreie Rate von 80% bei hochselektiven Patienten mit sehr niedrigem bis niedrigem Progressionsrisiko erzielt werden.12 Eine retrospektive Studie aus dem Jahr 2011 verglich SCDCT mit Hochdosis-Salvage-Chemotherapie (SHDCT) als Zweitlinientherapie nach Rückfall bei Patienten mit metastasiertem Keimzelltumor (GCT). Es konnte ein Benefit für SHDCT im PFS (HR: 0,44; 95% CI: 0,39–0,51) und im OS (HR: 0,65; 95% CI: 0,56–0,75) gezeigt werden.11 Bei niedrigem Progressionsrisiko lagen ähnliche Daten für das OS sowohl bei SHDCT als auch SCDCT vor.11 Über alle Risikogruppen hinweg ergab sich ein Vorteil für die SHDCT vs. SCDCT im 2-Jahres-PFS (50% vs. 29%) und 3-Jahres-Gesamtüberleben (55% vs. 46%; Abb. 2).11

„Eine sequenzielle SHDCT ist der SCDCT überlegen und sollte für alle Rezidivpatienten angedacht werden, bis festgemacht werden kann, ob für diese Patienten auch eine SCDCT ausreichend ist“, so De Santis. Die SHDCT ist in der Zweitlinie oder darüber hinaus weniger effektiv als in der Erstlinien-Salvagetherapie. „Operative Methoden sind im Setting der Salvage-Strategie jedoch immer kritisch zu betrachten“, ergänzt De Santis. Jede weitere Chemotherapie, die über die erste Salvage-Chemotherapie hinausgeht (egal, ob Mono-, Double- oder Tripeltherapie), ist demnach als palliativ anzusehen und hat nur eine sehr limitierte Langzeitwirksamkeit.

Ausblick

Die Post-Chemotherapie-RPLND ist integraler Bestandteil im Management von Hodenkrebs und durch die Komplexität sind diese operativen Eingriffe v.a. Experten in spezialisierten Zentren vorbehalten. Zukünftig könnten hier mittels Radiomics-Bildgebung vor RPLND mit sehr hoher Genauigkeit (96%) malignes und benignes Gewebe bei metastasierten Keimzelltumoren des Hodens detektiert undvoneinander differenziert werden, was bei benigner Fibrosierung eine RPLND nach Chemotherapie abwenden könnte.13 Zwei Biomarker (AGR2, KRT19) könnten zusätzlich zukünftig bei der Differenzierung zwischen Teratomen und Nekrosen nach Chemotherapie im PET-CT-Scan helfen.14 Bei Rezidiven nach Chemotherapie gibt es abseits der SHDCT erste vielversprechend Ergebnisse zu CLDN6-CAR-T-Zellen, die in Phase-I- und Phase-II-Studien eine ermutigende Wirksamkeit bei schwer vorbehandelten GCT-Patienten zeigen (ORR 57% and DCR 85%; n=7).15

◾0615

Quelle:

Sessions „Emerging role of RPLND in low-stage seminoma“ von Dr. Joel Sheinfeld, „Surgical management of complex residual masses following chemotherapy for metastatic germ cell tumors“ von DDr. Axel Heidenreich, „Management of testis cancer relapse“ von Dr. Maria De Santisam 15. Dezember im Rahmen der Veranstaltung „Visiting Professorships & 9th Michael J. Marberger Meeting“, 13.–18. Dezember 2023, Wien

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PFS (Wahrscheinlichkeit)

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1,0

0,8

0,6

0,4

0,2

0

CDCT – konventionelle Chemotherapie HDCT – Hochdosis-Chemotherapie

HR: 0,44 (95% CI: 0,39–0,51)

2-Jahres-PFS: 50% vs. 29%

CDCT – konventionelle Chemotherapie HDCT – Hochdosis-Chemotherapie

HR: 0,65; 95% CI: 0,56–0,75

3-Jahres-Gesamtüberleben: 55% vs. 46%

Zeit (Jahre)

Zeit (Jahre)

Abb. 2: Salvage-Chemotherapie: SCDCT vs. SHDCT über alle Risikogruppen der International Prognostic Factors Group hinweg (modifiziert nach Lorch A et al. 2011)11

OS (Wahrscheinlichkeit)

1,0

0,8

0,6

0,4

0,2

0

Anzahl unter

Risiko

30 28 24 23 15 12 11 10 10

1,0

0,8

0,6

0,4

0,2

0

Rezidiv-freies Überleben (Rate)

Abb. 1: Ergebnisse der COTRIMS-Studie: Kaplan-Meier-Kurve zu Rezidiv-freiem Überleben nach RPLND bei Stadium-IIA/B-Seminom-Patienten (modifiziert nach Heidenreich A et al. 2023)7

Zeit seit Operation (Monate)

0 3 6 9 12 15 18 21 24

Rezidiv-freies Überleben (RFS): 90%

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