Viele Teile. Ein Ganzes.
60 Jahre ÖGPÄRC: im Spannungsfeld zwischen Behandlung und Optimierung
Wo positionieren wir uns in einer nach Optimierung strebenden, zunehmend digitalen Welt? Braucht es einen Spagat zwischen Narzissmus und Notwendigkeit? Diese Fragen griff die Österreichische Gesellschaft für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie (ÖGPÄRC) bei ihrer Jahrestagung in Schladming auf. Zum 60. Jubiläum zog sie Bilanz zu den gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte und den Herausforderungen unserer Zeit.
Das Motto der 60. Jahrestagung ‚Viele Teile. Ein Ganzes.‘ weist zum einen auf die zunehmende Spezialisierung unseres Fachgebietes und die sich daraus ergebende Notwendigkeit eines stetigen interdisziplinären Diskurses mit anderen Fachdisziplinen hin“, so Tagungspräsident Univ.-Prof. Dr. Spendel, stv. Leiter der Abteilung für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie des Universitätsklinikums in Graz. „Zum anderen weist es auf unser gesamtes Aufgabengebiet, welches sich aus vielen Teilbereichen wie zum Beispiel der Verbrennungschirurgie, Handchirurgie, peripheren Nervenchirurgie, Brustchirurgie, Tumorchirurgie usw. zusammensetzt, hin. Das Ziel ist stets, eine optimale und innovative Versorgung unserer Patienten zu gewährleisten, vor dem Hintergrund, dass entsprechend der WHO-Definition Gesundheit ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens ist und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“
Entwicklungen hin zu einer „Wunschmedizin“?
Die plastische Chirurgie befindet sich zunehmend in einem Spannungsfeld. Einerseits gelingen technisch äußerst aufwendige Operationen immer besser, Menschen nach Unfällen, schweren Erkrankungen wie z.B. Krebs und zunehmend wieder Kriegsversehrte oder aber Menschen mit angeborenen Fehlbildungen (zumeist Kinder) werden chirurgisch-rekonstruktiv behandelt und versorgt. Gleichzeitig befasst der Wunsch vieler Menschen nach einer Optimierung ihres optischen Erscheinungsbildes die Fachärzt*innen der plastischen, ästhetischen und rekonstruktiven Chirurgie. Sie werden mit dem Wunsch nach einem idealen Körperbild und häufig Trends aus den Social Media konfrontiert. Doch was steckt hinter dem Begriff „Wunschmedizin-Enhancement“? Welche rechtlichen Regeln sind zu beachten? Und kann beides gelingen? Darüber diskutierten vier prominente Vertreter der ÖGPÄRC.
Facts – Figures – Fakes
Univ.-Prof. Dr. Lars-Peter Kamolz, Graz:
Im Jahr 2020 wurden weltweit rund 25 Millionen chirurgische und nicht chirurgische „Schönheitseingriffe“ durchgeführt. In keinem Land wurde dem Äußeren so häufig nachgeholfen wie in den USA, die zusammen mit Brasilien seit Jahren die beiden Spitzenplätze belegen. Mit rund 1,62 Millionen Eingriffen bzw. 16% aller Schönheitsoperationen war 2020 die Brustvergrößerung wieder die beliebteste ästhetische Prozedur der Welt. Wie im Jahr zuvor sichert sich das Fettabsaugen den zweiten Platz mit insgesamt rund 1,53 Millionen Eingriffen bzw. 15,1% aller Schönheitsoperationen. Auf Platz drei und vier folgen Lidplastik und die Nasenkorrektur mit 12,1 bzw. 8,4%. Unter den nicht chirurgischen Schönheitseingriffen dominiert seit Jahren die Botox-Behandlung mit rund sechs Millionen Prozeduren oder gut 40% aller nicht operativen Eingriffe den Markt.
Plastische Chirurgie ist aber weit mehr als nur Schönheitschirurgie. Gerade auch in der Covid-Zeit hat sich wieder einmal mehr gezeigt, welche Bedeutung die moderne plastische Chirurgie für die Patientenversorgung hat. Exemplarisch sei hier nur auf Zahlen aus dem Jahr 2020 (aus dem Uniklinikum Graz) verwiesen. Während die Zahl an körperformenden Eingriffen während der Covid-Zeit auf nahezu null zurückgegangen ist, hat sich die Anzahl der Notfalleingriffe und Akuteingriffe veracht- bzw. verdreifacht. Beispielsweise ist seit 2020 die Zahl der Operationen bei Schwerbrandverletzten, der komplexen handchirurgischen Operationen und der rekonstruktiven Operationen bei Tumorpatienten signifikant angestiegen.
Wunschmedizin-Enhancement? Operieren wir neue Looks?
Univ.-Prof. Dr. Christine Radtke, Wien:
Der Wunsch nach Schönheit hat in den letzten Jahren zu einer Hochkonjunktur des Schönheitskults und der ästhetischen Chirurgie geführt. Schönheitsoperationen stellen das Paradebeispiel für Enhancement dar, da diese Eingriffe in den meisten Fällen nicht medizinisch notwendig sind. Der Arzt wird zum Dienstleister an Patienten, die wie Kunden agieren und ihre körperlich-ästhetischen Ansprüche realisiert sehen möchten. Diese Entwicklung wirft neben medizinethischen Fragen auch eine Reihe von rechtlichen Fragen auf. Diese Operationen wurden meist durch bloße Wunschvorstellungen oder Eitelkeit motiviert, keineswegs um körperliche Beschwerden zu vermindern. Und damit sind wir mittendrin im Spannungsfeld des wunschmedizinischen Handelns. Der Grund für ärztliches Handeln ist es, Heilung herbeizuführen und Leiden zu mindern. Der Arzt behandelt also Kranke. In der Wunschmedizin fehlt dieser Aspekt jedoch. Es gibt keine medizinische Rechtfertigung für die Behandlung. Im Mittelpunkt aller Schönheitsdebatten steht die Sehnsucht nach Attraktivität, die das Denken und Fühlen vieler Menschen beherrscht, was die Schönheitsindustrie zu einem sehr erfolgreichen Wirtschaftszweig macht. Die Modellierung des eigenen Körpers nach den Gesetzen der Schönheit und der Moden hat mittlerweile Ausmaße angenommen, die von manchen kritischen Beobachtern mit Besorgnis gesehen werden.
Geben Influencer & Social Media neue Ideale vor?
Univ.-Doz. Dr. Greta Nehrer, Wien:
Mit dem Aufkommen von sozialen Netzwerken entstanden neue Möglichkeiten der Selbstdarstellung. Die einfache Veränderbarkeit des virtuellen Auftritts durch Bildbearbeitungen hilft, das virtuelle Abbild näher an die eigene „perfekte“ Vorstellung anzupassen, sei es in Form einer anderen Augenfarbe, makelloser Haut oder der „richtigen“ Körperform. Auf die Frage „Wer bin ich?“ bietet „Instagram“ eine Antwort, in der man sich selbst inszenieren kann, um Werte, Meinungen und Präferenzen eines sozialen Umfelds einzuholen. Das Teilen von Fotos und Videos in Kombination mit Filterapplikationen und Bearbeitungsprogrammen führt zu einem steigenden Realitätsverlust Jugendlicher, die Omnipräsenz makelloser Bilder von Models und „Influencer*innen“ löst einen psychischen Druck aus. Fragen wie „Bin ich zu dick?“, „Warum kann ich nicht so viel reisen?“ oder „Warum habe ich nicht so ein ‚perfektes‘ Leben?“ wurden zum Alltag junger Social-Media-Nutzer*innen.
In dieser virtuellen Welt, die voll mit „Instagram-Models“ und „Influencer*innen“ ist, sind Nutzer*innen ständig mit Bildern oder sogenannten „Selfies“ konfrontiert, die nicht dem wahren „Ich“ entsprechen. Mit jedem Login sieht man Hunderte von makellos retuschierten und bearbeiteten „Selfies“, die Unzulänglichkeiten verstecken, um für die Außenwelt „perfekt“ auszusehen. Eine Studie der Royal Society for Public Health (2017) fand heraus, dass „Instagram“ unter den sozialen Netzwerken den größten Einfluss auf die Psyche Jugendlicher hat. Neun von zehn der befragten Jungen und Mädchen gaben an, mit ihrem Körper unglücklich zu sein. Weiters gaben 70% der Proband*innen an, sich einen chirurgischen Eingriff zu kosmetischen Zwecken zu wünschen.
Körperwahrnehmungsstörungen gab es schon immer (z.B. bei Bulimie), aber noch nie in dem Ausmaß wie heute. Ein neues Phänomen ist entstanden, die sogenannte „Snapchat-Dysmorphophobie“. Über 50% der plastischen Chirurgen in den USA berichten von Patienten, die aussehen wollen wie ihr gefiltertes Instagram-Ich. Ästhetische Eingriffe, chirurgisch und nicht chirurgisch, können das Wohlbefinden und das Selbstvertrauen unserer Patienten verbessern. Das ist eine sehr schöne und verantwortungsvolle Aufgabe. Die Voraussetzung dabei ist und war immer ein stabiles und realistisches Selbstbild der Patienten. Eine Störung des Körperbildes, d.h. eine Dysmorphophobie, ist eine Kontraindikation zur Behandlung. Diese Patienten brauchen psychologische, nicht plastisch-chirurgische Hilfe. Wir plastischen Chirurgen verstehen uns nicht als Dienstleister, sondern als Ärzte und möchten unseren Patienten beratend zur Seite stehen. Es wird also eine neue Herausforderung auf uns plastische Chirurgen zukommen.
Wunsch & Wirklichkeit: Wie ist die Rechtslage?
Dr. Josef Thurner, Salzburg & München:
Die Klagebereitschaft nimmt zu! Der Rechtsschutz ist besser, die Medizin komplexer und die Anwälte aktiver geworden. All das sind Gründe dafür, dass wirkliche und vermutete Behandlungsfehler immer öfter vor Gericht landen.
Zu den Hauptgründen für Klagen zählen unrealistische Erwartungshaltungen, Unzufriedenheit mit dem kosmetischen Ergebnis, das Auftreten von Komplikationen und die Vermutung, dass der Eingriff „nicht lege artis“ durchgeführt wurde. Auch der Einwand „Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich den Eingriff nie machen lassen“ ist bei Klagen keine Seltenheit. Weitere Gründe sind eine Vollkaskomentalität, gescheiterte Arzt-Patienten-Kommunikation oder Verletzungen der Aufklärungspflicht oder des ÄSTHOP-Gesetzes (selten). Die wenigsten Patienten klagen, wenn wirklich ein Schaden aufgetreten ist!
Die Prophylaxe von Patientenklagen setzt sich aus verschiedenen Teilen zusammen. Der beste Schutz gegen behauptete Aufklärungs- und Behandlungsfehler ist eine sorgfältige Aufklärung und gute Dokumentation. Die Aufklärung sollte mündlich, zeitgerecht und patientengerecht erfolgen. Behandlungstypische Risiken sind detailliert darzulegen. Generell gilt: Je weniger dringlich, umso umfassender muss die Aufklärung sein. Auch Behandlungsalternativen sind aufzuzeigen und gegebenenfalls schriftliche Ergänzungen festzuhalten.
Der finanzielle Erfolgsdruck und die deutliche Zunahme von ästhetisch praktizierenden Ärzten erhöht die Fehlerquote bei den Behandlungen. Das Credo sollte daher lauten: Nur ein gut informierter Patient ist ein guter Patient! (red)◼
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Quelle:
Pressemappe „60. Jahrestagung ÖGPÄRC“ zum Pressegespräch der Jahrestagung „Wunschmedizin: Braucht es einen Spagat zwischen Narzissmus und Notwendigkeit?“, 20.Oktober 2022, Schladming
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Jahrestagung der ÖGPÄRC20.–22. Oktober 2022, Schladming A. Name, Ort© XXXXX
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