Vision "Integrative Schmerzmedizin" in der Praxis
Jede Schmerztherapie setzt eine angemessene, präzise Diagnostik voraus: Schmerz-, Struktur- und Funktionsanalyse, Aktualität, Chronifizierungsrisiko, Schmerzbewältigung, psychosoziale Aspekte usw. In diesem Artikel befassen wir uns aber nicht mit der Diagnostik oder Medikation, sondern mit Konzepten für eine personalisierte Therapie bzw. mit der Rolle des fallführenden Arztes.
Die rasche Abklärung und effiziente Behandlung von Schmerzen gehören zu den häufigsten und dringlichsten Aufgaben des Allgemeinmediziners oder Facharztes. Eine besondere fachliche und menschliche Herausforderung ist dabei die oft langjährige Behandlung und Begleitung von Patienten mit wiederkehrenden bzw. chronischen Schmerzen.
Die etablierten, überwiegend naturwissenschaftlich-somatisch ausgerichteten Schmerztherapien greifen hier wesentlich zu kurz, und die trügerische Fantasie einer nachhaltigen "Schmerzausschaltung" entpuppt sich meist als herbe Enttäuschung für Patienten und Behandler.
Von der Pathogenese zur Hygiogenese
Angesichts der komplexen biopsycho-sozialen Zusammenhänge bei der Entstehung und Chronifizierung von Schmerzen bedarf es eines integrativen Vorgehens im Sinne der "Mind-Body-Medizin" (Tab. 1). Diese ergänzt die üblichen Schmerztherapien um ein Wesentliches, nämlich die Anregung der Selbstheilungskräfte: endogene Schmerzkontroll- und Reparaturmechanismen, Regeneration, Gewebeheilung, Immunmodulation, Neuroplastizität, Parasympathikus-Aktivierung, mental-emotionale Ressourcen, Trainingseffekte, Verhaltensänderungen u.a.m.
Schmerz, Disstress-Syndrom und psychische Faktoren
Akuter Schmerz löst eine sofortige Sympathikus-Aktivierung aus, chronischer Schmerz geht immer mit einem Disstress-Syndrom einher (Abb. 1).
Daraus ergibt sich die therapeutische Notwendigkeit der Stressreduktion, der Sympathikus-Dämpfung bzw. der Vagus-/Parasympathikus-Aktivierung.
Angst, Depressivität, Psychotraumen und andere psychische Erkrankungen spielen oft eine entscheidende Rolle im Schmerzgeschehen – sei es ursächlich oder als Folge des Leidens. Jedenfalls müssen bei entsprechenden Symptomen frühzeitig eine differenzierte Psychodiagnostik sowie Psychotherapie und/oder psychologische Schmerztherapie veranlasst werden.
Was kann physikalische Schmerztherapie?
Einige physikalische Anwendungen sind in der Allgemeinpraxis machbar, andere werden an Physiotherapeuten und Heilmasseure delegiert. Zur Physikalischen Therapie zählen definitionsgemäß Bewegungstherapie (Heilgymnastik), diverse Massagearten, Manuelle Lymphdrainage, Manualtherapie und physikalische Anwendungen (z.B. Elektro-, Thermo-, Kryo- und Hydrotherapie). Bei indikationsgerechter Anwendung bewirkt die Physikalische Therapie zunächst eine symptomatische Schmerzdämpfung und Verbesserung pathologisch veränderter Gewebszustände.
Darüber hinaus zielen die Therapien auf eine Optimierung der Körperfunktionen, -strukturen und alltagsrelevanten Aktivitäten ab. Besonders die Bewegungstherapie ist für Schmerzpatienten unverzichtbar. Sie bessert nicht nur die Haltungs- und Bewegungsfunktionen, sondern auch Selbstwirksamkeit, Zuversicht und Schmerzbewältigung. Ein personalisiertes Übungsprogramm sowie eine weiterführende Medizinische Trainingstherapie dienen der Verbesserung der physischen Kondition.
In der Sekundärprävention geht es um eine nachhaltige Veränderung der Lebensstilfaktoren Ernährung, Bewegung, Entspannung, Arbeitsgestaltung und soziales Verhalten im Alltag.
Achtsames Bewegen und Entspannen bewirken nachweislich eine rasche Schmerzdämpfung und Besserung des psychischen Befindens. Achtsamkeitsübungen und atemgeführte ganzheitliche Bewegungsmeditationen wie Tai-Chi, Qigong und Yoga haben sich zu Recht international in der Schmerzrehabilitation etabliert.
Fazit: multimodale/multiprofessionelle Diagnostik und Therapie
Integrative Schmerzmedizin ist ein ganzheitlicher, lösungsorientierter und transdisziplinärer Ansatz für die Diagnostik, Therapie und Rehabilitation von chronischen Schmerzkrankheiten. Er berücksichtigt die Pathologie und stimuliert die Hygiogenese.
Der Allgemeinarzt oder zuständige Facharzt soll dabei primärer Ansprechpartner und Coach des Patienten bleiben und besonders die drei kommunikativen Tugenden pflegen ("3Z"): achtsames Zuschauen – Zuhören – Zugreifen (Tasten, Behandeln). Er übernimmt auch die Rolle des Koordinators für die jeweils indizierten Therapiemaßnahmen:
-
personalisierte Medikation
-
Neuraltherapie, Akupunktur u.a. komplementäre Therapien
-
psychologische Schmerztherapie, Psychotherapie
-
Ernährungstherapie, Heilfasten
-
physikalische Anwendungen, Massagen
-
Bewegungstherapie und Training
-
Achtsamkeit, Entspannung, Meditation, Tai-Chi, Qigong, Yoga
Literatur: beim Verfasser
Institut für Physikalische Medizin und Rehabilitation
Stmk. Krankenanstaltenges.m.b.H.
LKH Murtal, Standort Stolzalpe
E-Mail: gerhard.fuerst@kages.at
Prim. Dr. Gerhard Fürst
© G. Fürst
Tab. 1:Vision "Integrative (Schmerz-)Medizin"
Hier bitte Tabelle einfügen
Tab. 1:Vision "Integrative (Schmerz-)Medizin"
Problemfelder bei chronischen Krankheiten/Schmerzenmultimodale TherapiekonzepteAbb. 1:Mindmap Schmerz – Disstress – Therapiestrategien
→ Symptomatische Schmerzdämpfung→ Strukturbezogene Techniken→ Funktionsorientierte Therapie KörperStrukturen + Funktionen Schmerz DysfunktionStrukturpathologiePersönliche und soziale EbeneAktivitätsdefiziteStörungen der Teilhabe Psychophysischer ZustandChronischer DisstressAngst? Depression?Psychotrauma?PTBS?→ Psychodiagnostik→ Psychotherapie→ Stressreduktion→ Sympathikus dämpfen→ "Smart Vagus" aktivierenIn der Integrativen Medizin ändern wir den Fokus von Therapeuten und Patienten (!) von der Pathogenese zur Hygiogenese – der "Psychophysiologie der Gesundung".
Prim. Dr. Gerhard Fürst