Jahrestagung der SGED 2021
Moderne Pharmakotherapien bei Adipositas
Prof. Carel le Roux, prominenter Redner am Jahreskongress der SGED, teilt mit César Roux nicht nur den Namen. Eine Gemeinsamkeit mit dem Schweizer Chirurgen und Begründer des Roux-en-Y-Magenbypasses dürfte auch das Interesse an der Adipositasbehandlung sein. In diesem Bereich wird es zukünftig einige Veränderungen geben, wie die Zusammenfassung seines Vortrags zeigt.
Adipositas ist eine komplexe und chronisch progressive Erkrankung, die allein etwa 650 Millionen Erwachsene weltweit betrifft. Die Behandlung der Adipositas und ihrer Komorbiditäten wie u.a. Diabetes mellitus Typ 2 oder kardiovaskulärer Risikofaktoren ist zu einer enormen Herausforderung geworden. Von den bisherigen Behandlungsmöglichkeiten, Ernährungstherapie, Pharmakotherapie und bariatrischer Chirurgie, hat sich vor allem letztere als erfolgreich erwiesen. «Nicht weil die Patienten im Anschluss an die Operation weniger essen, sondern weil sie weniger hungrig sind», erfuhr man in der virtuellen Präsentation von Prof. Dr. med. Carel le Roux, Universität Dublin, Irland, am SGED-Kongress in Bern. Der Grund dafür ist die orchestrierte Zunahme gastrointestinaler Peptide, darunter auch das «Glucagon-like Peptide 1», GLP-1. Diese sind ein wichtiger Bestandteil der «Gut-Brain Axis» und erhöhen nicht nur auf peripherer Ebene, sondern auch zentral die Sättigung. Die Folgen davon sind die Abnahme des Hungergefühls und konsekutiv eine reduzierte Nahrungsaufnahme und ein Gewichtsverlust.
Wirkung der GLP-1-Analoga geht über Gewichtsreduktion hinaus
Auf vergleichbare Weise wirken die bislang vor allem wegen ihrer blutzuckersenkenden Wirkung eingesetzten GLP-1-Analoga.1 Die beiden GLP-1-Analoga Liraglutid und Semaglutid weisen eine Homology von 97% respektive 94% zu physiologischem GLP-1 auf. Das hat zwei Vorteile: «Wir nutzen einen natürlichen Pathway, um den Krankheitsverlauf der Adipositas zu verändern», sagte le Roux. Zudem hätten die Wirkstoffe wegen der hohen Übereinstimmung mit natürlichem GLP-1 ein gutes Sicherheitsprofil.
Studien zeigen, dass sich mit den neuen pharmakologischen Adipositastherapien Gewichtsreduktionen erzielen lassen, wie man sie bisher nur von der bariatrischen Chirurgie kennt. Dazu präsentierte Prof. le Roux zunächst vier randomisierte kontrollierte Studien (RCT) des STEP-Programmes. Dieses untersuchte den Effekt des GLP-1-Analogons Semaglutid in Kombination mit Lifestyle-Massnahmen bei über 4600 Patienten mit Übergewicht (BMI ≥27 kg/m2) oder Adipositas (BMI ≥30kg/m2) mit oder ohne Komorbiditäten. Wie die Ergebnisse der STEP-1-Studie zeigten, betrug der prozentuale Gewichtsverlust bei den mit Semaglutid 2,4mg s.c. ow («once weekly») behandelten Patienten nach einer Behandlungsdauer von 68 Wochen durchschnittlich 14,9% im Vergleich zu 2,4% unter Placebo. Bei etwa 30% der Studienteilnehmer betrug der Gewichtsverlust ≥20%, etwa 50% der Studienteilnehmer verloren ≥15% ihres Gewichts.2 Die Step-2-Studie verglich die Wirkung von zwei unterschiedlichen Dosen Semaglutid (1mg und 2,4mg ow s.c.) versus Placebo auf das Körpergewicht bei Patienten, die zusätzlich an Diabetes mellitus Typ 2 (DM2) litten. Dabei zeigte sich, dass der Blutzucker und das HbA1c mit beiden Dosierungen deutlich reduziert wurden. «Für die glykämische Kontrolle ist eine niedrige Dosis ausreichend», sagte der Spezialist. Mit der höheren Dosis wurde eine vergleichbare glykämische Kontrolle, aber eine signifikant höhere Gewichtsreduktion erzielt. Die Ergebnisse demonstrierten, dass Patienten mit DM2 generell weniger an Gewicht verlieren als Patienten ohne Diabetes (durchschnittlich 10% vs. 15%).3, 2 Darüber hinaus führte die Behandlung mit Semaglutid zu einer Abnahme des systolischen Blutdrucks und zu einer Reduktion inflammatorischer Marker wie des C-reaktiven Proteins. «Das zeigt, dass wir mit der Behandlung sowohl die Komplikationen der Adipositas wie auch die des metabolischen Syndroms positiv beeinflussen können», so le Roux. Wie auch schon in der Step-1-Studie kam es bei den Patienten in der Step-2-Studie infolge der Gewichtsreduktion zu einer deutlichen Zunahme der Lebensqualität. Die Ergebnisse der Step-3-Studie zeigten, dass die Gewichtsreduktion unter Semaglutid durch eine intensive Verhaltenstherapie nur geringfügig verbessert werden konnte.4 In die anschliessend präsentierte Step-4-Studie wurden nur Patienten eingeschlossen, welche die Auftitrierung von Semaglutid auf 2,4mg ow in der «Run-in»-Phase gut toleriert hatten.5 Diese wurden zu einer Behandlung mit Semaglutid (2,4mg ow s.c.) oder Placebo randomisiert. Dabei zeigte sich, dass der prozentuale Gewichtsverlust bei den über 68 Wochen kontinuierlich mit Semaglutid behandelten Patienten am grössten war (–17% vs. –5% unter Placebo). Der Behandlungsunterbruch und der Wechsel zu Placebo führten hingegen zu einer Gewichtszunahme. «Das zeigt, dass es sich bei Adipositas um eine komplexe chronische Erkrankung handelt, die eine Langzeitbehandlung erfordert», sagte der Spezialist.
Ein neuer vielversprechender Wirkstoff in der Adipositastherapie ist das langwirksame Amylin-Analogon Cagrilintide. Amylin ist ein Peptid, das nach der Nahrungsaufnahme zusammen mit Insulin von den Betazellen des Pankreas sezerniert wird.Wie die Ergebnisse einer 26-wöchigen Phase-II-Dosisfindungsstudie bei Patienten mit Übergewicht oder Adipositas zeigten, führte die Dosis von 4,5mg Cagrilintide ow s.c. im Vergleich zu Placebo zu einem Gewichtsverlust von ≥10%.6 Eine Phase-I-Studie, in der die Sicherheit und die Verträglichkeit einer kombinierten Pharmakotherapie mit Cagrilintide (4,5mg ow s.c.) und Semaglutid (2,4mg ow s.c.) in einer kleinen Population von Patienten mit einem BMI von 27–40kg/m2 untersucht wurden, zeigte, dass die Betroffenen nach einer 20-wöchigen Behandlungsdauer ≥17% ihres Körpergewichts verloren hatten – und das ohne zusätzliche Interventionen wie beispielsweise Lifestyle-Änderungen.7
Stufenweise Adipositasbehandlung
«Die Adipositas ist eine chronische Erkrankung und sollte auch als solche behandelt werden», so der Appell des Experten. An erster Stelle der stufenweisen Behandlung stehen Lifestyle-Modifikationen, gefolgt von einer professionellen Ernährungstherapie. Wenn der Effekt dieser Massnahmen ungenügend ist, sollte die Therapie eskaliert und zusätzlich eine Pharmakotherapie begonnen werden. «Zukünftig werden wir zur Adipositastherapie hochwirksame Medikamente haben, mit denen eine nahezu gleiche Gewichtsabnahme erzielt wird wie mit einem bariatrischen Eingriff», sagte le Roux. In beiden Fällen wird es «Responder» und «Non-Responder» geben. Non-Responder sollten identifiziert und einer chirurgischen Behandlung zugeführt werden. Bei einer ungenügenden Gewichtsreduktion nach einem bariatrischen Eingriff ist die Kombination mit einer Ernährungstherapie oder mit einer Pharmakotherapie angezeigt.◼
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Die grössten Erfolge in der Adipositasbehandlung wurden bisher mit bariatrischen Eingriffen erzielt. Wie der Vortrag von Carel le Roux zeigt, führen moderne Pharmakotherapien zu ähnlich hohen Gewichtsverlusten. Die nachfolgenden Kommentare zeigen, wie die Adipositastherapie aus Sicht der Endokrinologen und Viszeralchirurgen zukünftig aussehen könnte.
Seit dem 1.4.2020 werden die Kosten für eine Adipositasbehandlungmit dem Präparat Saxenda® unter Berücksichtigung der in der Spezialitätenliste des BAG aufgeführten Limitationen von den Krankenkassen übernommen. Es handelt sich hierbei um das GLP-1-Analogon Liraglutid, welches bereits seit etwa 13 Jahren in einer Dosis von bis zu 1,8mg/d unter dem Handelsnamen Victoza® zur Behandlung des DM2 eingesetzt wird. Zur Adipositastherapie werden meist höhere Dosen von bis zu 3mg der Substanz eingesetzt. In einer klinischen Studie zeigte sich unter einer Behandlung mit hoch dosiertem Liraglutid eine durchschnittliche Gewichtsreduktion von etwa 8,4%; nach Abzug des in der parallel behandelten Placebogruppe erzielten Gewichtverlusts verblieb ein Nettoeffekt von 5,6%.8 In naher Zukunft werden höchstwahrscheinlich noch wirksamere Medikamente zur Gewichtsreduktion zur Verfügung stehen. Erwähnenswert ist hier insbesondere das GLP-1-Analogon Semaglutid, das in einer Dosis von 1mg ow bereits seit einigen Jahren in der DM2-Therapie eingesetzt wird. In der deutlich höheren Dosis von 2,4mg ow zeigte das Medikament in einer klinischen Studie bei Menschen mit Übergewicht bzw. Adipositas eine mittlere Gewichtsreduktion von 14,6% (netto 12,4% gegenüber Placebo).2 Die vielversprechende Aussicht auf sehr effektive und sichere pharmakologische Therapieoptionen veranlasst bereits heute einige dazu, das Fortbestehen der bariatrischen Chirurgie als invasivere Therapie der Adipositas infrage zu stellen. Eine objektive Gegenüberstellung der Effektivitätsdaten zeigt jedoch, dass bariatrische Verfahren wie der Schlauchmagen und Magenbypass mit einer mittleren Gewichtsreduktion von etwa 25 bzw. 29% (auch nach 5 Jahren) doch noch deutlich wirksamer sind.9 Aus meiner Sicht stellt sich im Moment daher nicht die Frage «Pharmakotherapie oder bariatrische Chirurgie?», sondern eher die Frage «Was, wann, bei wem?». Bei der Beantwortung dieser Frage muss man auch den Aspekt der Chronizität und damit verbunden die Rezidivgefahr der Krankheit Adipositas berücksichtigen. Eine einfache Therapiezuteilung beispielsweise anhand von BMI-Kategorien greift hier zu kurz. Es gilt, neben der Effektivität der unterschiedlichen Therapiemodalitäten insbesondere auch die Wünsche und Sorgen der Betroffenen zu berücksichtigen.
Ein Argument jedoch, das dafür spricht, in den meisten Fällen primär mit einer Pharmakotherapie zu beginnen, generiert sich aus der Beobachtung, dass sich der Therapieerfolg sowie auch ggf. auftretende Nebenwirkungen der medikamentösen Behandlung bereits nach einer recht kurzen Zeit von 16 Wochen sehr gut abschätzen lassen.10 So kann bei unzureichender Wirksamkeit problemlos die medikamentöse Therapie beendet und im Sinne einer Therapieeskalation eine bariatrische Operation durchgeführt werden. Andererseits kann ein gutes Ansprechen auf die medikamentöse Therapie die Frage nach einer bariatrischen Operation obsolet machen. An dieser Stelle ist wichtig zu betonen, dass die unterschiedlichen Therapiemodalitäten keinesfalls gegeneinander ausgespielt werden sollten. So darf ein vorausgehender medikamentöser Therapieversuch nicht etwa als Voraussetzung für die Durchführung einer bariatrischen Operation gefordert werden. Aus ärztlicher Sicht muss klares Ziel sein, betroffenen Patienten mit Adipositas eine bestmögliche, individualisierte Therapie ihrer Erkrankung anbieten zu können.
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Die bariatrische und metabolische Chirurgie erwies sich in den letzten Jahren als die effizienteste und nachhaltigste Therapie bei krankhaftem Übergewicht. Neben der Gewichtsreduktion hat sie zum Ziel, Folgeerkrankungen günstig zu beeinflussen, die damit verbundene Sterblichkeit zu reduzieren und die Lebensqualität zu erhöhen. Der Gewichtsverlust und die Verbesserung von Adipositas-assoziierten Folgekrankheiten werden durch die chirurgische Veränderung der gastrointestinalen Anatomie hervorgerufen. Neben der Nahrungsrestriktion und Malabsorption bewirken der Roux-en-Y-Magenbypass und der Schlauchmagen auch eine Veränderung der gastrointestinalen Peptide. Zu den wichtigsten Vertretern dieser Hormone zählt GLP-1: Es hemmt den Appetit und reduziert somit die Nahrungsaufnahme bei gleichzeitiger Stimulation der Insulinausschüttung. Das bedeutet, dass GLP-1 potenziell zu den gleichen therapeutischen Effekten wie eine bariatrische Operation führen kann. Folglich führen sogenannte GLP-1-Analoga, wie sie zur DM2-Therapie eingesetzt werden, auch zu einem signifikanten Gewichtsverlust. Die Ergebnisse der medikamentösen Therapie fallen im Vergleich zur chirurgischen Behandlung jedoch deutlich schlechter aus.
In einem systematischen Review haben wir die Effekte der zusätzlichen postoperativen Gabe von GLP-1-Analoga nach bariatrischer Operation untersucht.11 Dabei konnten wir zeigen, dass GLP-1-Analoga einen positiven Effekt auf die zusätzliche Gewichtsabnahme und die Remission von Typ-2-Diabetes mellitus haben können. Die Einnahme von GLP-1-Analoga kann eine Operation nicht ersetzen, sollte aber bei Patienten mit ungenügendem Ansprechen auf eine bariatrische Operation als additive Therapie in Betracht gezogen werden.
Der Review macht deutlich, dass bei einer chronischen und pathophysiologisch komplexen Erkrankung wie der morbiden Adipositas eine medikamentöse oder chirurgische Behandlung alleine oft nicht ausreicht. Vielmehr braucht es ein interdisziplinäres Zusammenspiel und eine Kombination von verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten, abhängig von den individuellen Patientenbedürfnissen und Therapiezielen. Es ist ein Miteinander von Chirurgen, Endokrinologen, Ernährungsmedizinern und Psychiatern, vergleichbar mit einem Tumorleiden, bei dem im Rahmen einer interdisziplinären Besprechung die Strategie vorgegeben wird und die verschiedenen Therapien in unterschiedlicher Reihenfolge zum Einsatz kommen. Mit anderen Worten: Der Therapieplan sollte vor jeder Adipositasbehandlung durch ein spezialisiertes und interdisziplinäres Team festgelegt und durchgeführt werden.
Quelle:
Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED) und Fortbildungstag der Swiss Society for the Study of Morbid Obesity and Metabolic Disorders (SMOB), 12. November 2021
Prof. Dr. med. Bernd Schultes
Stoffwechselzentrum St. Gallen, friendlyDocs AG
Clarunis, Universitäres Bauchzentrum Basel